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D. Reformvorschläge - Stand der Forschung
Das umlagefinanzierte System der gesetzlichen Rentenversicherung ist zentraler
Bestandteil der Altersversorgung in Deutschland – aus Sicht der Beitragszahler, die
einen hohen Prozentsatz ihres Einkommens für das System aufwenden, wie aus
Sicht der Leistungsempfänger, die aus der gesetzlichen Rentenversicherung den
größten Anteil des Alterseinkommens beziehen. Eine Reform der Alterssicherung
muss demnach am System der gesetzlichen Rentenversicherung ansetzen.
Zum umlagefinanzierten System der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es
Alternativen. Die Altersversorgung einer Bevölkerung kann neben dem System der
Umlage, des „Generationenvertrages“, auch in Form der Kapitaldeckung
vorgenommen werden oder über das Steueraufkommen. Denkbar ist auch, dass die
Altersversorgung im Wege aller drei Alternativen gleichzeitig finanziert wird. In
Deutschland existieren die beiden alternativen Finanzierungsformen neben dem
System der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), wenn auch im Umfang viel
geringer: So wird die Altersversorgung der Beamten aus dem allgemeinen
Steueraufkommen finanziert. Selbständige, die nicht der Rentenversicherungspflicht
unterfallen, und sich nicht freiwillig in der GRV versichern, sorgen im Regelfall im
Wege der Kapitaldeckung vor, z.B. in Form von Lebensversicherungen und privaten
Rentenversicherungen. Zu beachten ist, dass auch die gesetzliche Rentenversicherung kein reines Umlageverfahren mehr darstellt, sondern zu einem Teil, in Form
der Bundeszuschüsse, aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert wird. Die
Frage, wie ein Alterssicherungssystem, welches zu einem erheblichen Teil auf
einem Umlagesystem basiert, so reformiert werden kann, dass es die Auswirkungen
gesellschaftlicher Veränderungen wie die des demographischen Wandels am besten
bewältigt, wird unterschiedlich beantwortet.
I. Modell der steuerfinanzierten Grundrente
Das Modell der steuerfinanzierten Grundrente ist in den 80er Jahren von Meinhard
Miegel und Stefanie Wahl in die Diskussion gebracht worden.120 Ziel ist die
Einführung einer Grundsicherung für alle Personen, die 65 Jahre oder älter sind. Die
Grundsicherung wird vollständig über Steuern finanziert. Auf der Leistungsseite
erbringt das Modell eine Grundrente in Höhe von 52,5 % des durchschnittlichen
Volkseinkommens.121 Auf der Finanzierungsseite wird die Grundsicherung nicht
durch Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert, sondern durch Steuern.
Dabei zu 60 % aus indirekten und zu 40 % aus direkten Steuern.122 Eine Reali-
120 Miegel/Wahl, Solidarische Grundsicherung - Private Vorsorge, Der Weg aus der Rentenkrise,
S. 121 ff.
121 Miegel/Wahl, a.a.O., S. 127.
122 Miegel/Wahl, a.a.O., S. 135.
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sierung des Modells hätte zur Folge, daß die direkten Steuern zunächst um 10 %, die
indirekten Steuern um 16 % erhöht würden. Im Verlauf des Anstiegs der
demographischen Belastung stiegen die Steuern um 25 % (direkte Steuern) bzw. 50
% (indirekte Steuern).123 Die Mehrwertsteuer stiege dabei auf 24 %. Die
Arbeitnehmer erhielten 70 % der bisherigen Beiträge der Arbeitgeber zur
gesetzlichen Rentenversicherung als Lohn ausbezahlt, 30 % würden beim
Arbeitgeber verbleiben. Alle Rentenbeiträge würden entfallen.124 Eine Finanzierung
der Rentenleistungen durch das allgemeine Steueraufkommen erscheint aus mannigfaltigen Gründen reizvoll. So könnten die Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung, die je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen
werden, entfallen und so die Lohnzusatzkosten gesenkt werden. Dies könnte die
Wettbewerbsposition der in Deutschland produzierenden Unternehmen auf dem
Weltmarkt stärken, was positive Effekte auf die Beschäftigung nach sich ziehen
könnte. Das Lohnniveau (ohne Beiträge) der Arbeitnehmer bliebe dabei gleich. Ein
weiterer Vorteil bestünde darin, dass die Einnahmen der gesetzlichen
Rentenversicherung nicht in dem Maße abhängig von der Erwerbstätigenquote
wären wie dies heute der Fall ist: Durch die Finanzierung der gesetzlichen
Rentenversicherung über Beiträge, die sich nach dem Arbeitseinkommen richten, ist
die Einnahmeseite der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe des
Beitragsaufkommens (der Bundeszuschuß, der steuerfinanziert ist, bleibt hier
unberücksichtigt) vollständig abhängig von der Beschäftigungssituation.
Gleichzeitig wird das Gut Arbeit jedoch knapper. Eine Abkoppelung der Einnahmeseite der gesetzlichen Rentenversicherung von der Beschäftigungsquote
scheint damit sinnvoll zu sein, um die Rentenlasten zu finanzieren und die
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen. Das spricht für das Konzept der
steuerfinanzierten Grundrente. Eine weitere Neuerung, die das System der
steuerfinanzierten Grundrente mit sich bringt und die die Diskussion um die Reform
der Alterssicherung schon in den 80er Jahren beeinflusst hat, ist der Ansatz, der
eigenverantwortlichen privaten Vorsorge einen größeren Stellenwert einzuräumen.125 Denn die Grundrente stellt nur eine Mindestsicherung (über dem Sozialhilfeniveau) dar, aber keine Lebensstandardsicherung wie es das Ziel der
gesetzlichen Rentenversicherung ist. Die Differenz zwischen der Grundsicherung
und der individuell präferierten weiteren Absicherung im Alter müßte im Wege
einer privaten Altersvorsorge erbracht werden, erforderte also eigene Initiative zur
Alterssicherung und beinhaltete eine Stärkung der zweiten und dritten Säule der
Alterssicherung. Eine steuerfinanzierte Grundrente scheint also Vorteile mit sich zu
bringen. Es gibt jedoch entscheidende Gründe, die gegen die Steuerfinanzierung einer Grundrente angeführt werden. Auf der Finanzierungsseite beinhaltet das System
bei genauer Betrachtungsweise im Vergleich zum bisherigen System kaum Vorteile:
123 Miegel/Wahl, a.a.O., S. 136.
124 Miegel/Wahl, a.a.O.
125 Vgl. auch Jäger, Umstellung der Gesetzlichen Rentenversicherung auf ein partiell
kapitalgedecktes Finanzierungsverfahren, S. 56.
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Durch die Finanzierung über Steuern wird zwar die Finanzierungsbasis des
Rentensystems verbreitert, was Vorteile für die Finanzierung der steigenden Rentenlasten verspricht. Allerdings müssten zu einer ausreichenden Finanzierung die
indirekten Steuern signifikant erhöht werden, was aus volkswirtschaftlicher Sicht die
dann eingesparten Beiträge nahezu kompensieren würde.126 Ein volkswirtschaftlicher Nutzen geht mit der bloßen Umstellung der Finanzierungsseite von
Beiträgen auf Steuern nicht einher. Lediglich die Absenkung des Rentenniveaus auf
52,5 % des Nettoentgelts bringt Verbesserungen auf der Finanzierungsseite. Das
allein ließe sich jedoch auch durch eine Absenkung des Rentenniveaus mit der Folge
einer Beitragssenkung im bisherigen System erreichen.
Es wird angenommen, dass eine steuerfinanzierte Grundrente ganz im Gegenteil
auch zu Nachteilen führen kann: So wird vertreten, dass direkte Steuern auf
Arbeitseinkommen einen Keil zwischen die Arbeitskosten und die Nettolöhne
treiben. Solch ein Steuerkeil wirkt in dem Sinne wohlfahrtsmindernd, daß er die
Anreize für Haushalte, Arbeit auf dem formellen Sektor anzubieten sowie die
Anreize für Unternehmen, Arbeit nachzufragen, vermindert.127 Die Entkoppelung
von Abgaben und Rentenansprüchen, die zu einer verstärkten Steuerbelastung führt,
könnten zudem steuerliche Fehlanreize verstärken (z. B. Ausweitung des
informellen Sektors auf dem Arbeitsmarkt).128 Rentenversicherungsbeiträge belasten zwar die Lohnkosten ebenso wie eine Steuer, unterscheiden sich von der Steuer
aber dadurch, daß den Beiträgen zur Rentenversicherung individuell zurechenbare
Leistungen gegenüberstehen, auf die ein Anspruch besteht. Steuern dagegen begründen keinen Anspruch auf eine Gegenleistung (§ 1 AO). Je enger aber die
Beziehung zwischen Beitrag und Leistung ist, desto weniger entfalten die Beiträge
den Charakter eines „Steuerkeils“ zwischen Arbeitskosten und Nettolöhnen, denn
die Beiträge zur Rentenversicherung werden so stärker als intertemporale
Einkommensverteilung angesehen und setzen geringere Anreize für die Haushalte,
Arbeit im informellen Sektor anzubieten als eine Steuer. Der Vorteil der
Beitragsäquivalenz im derzeitigen Rentensystem würde verloren gehen. Die
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung werden generell in nur geringem
Maße als eine Steuer empfunden und zwar erst dann, wenn aus den Beiträgen
Umverteilungsaufgaben finanziert werden oder wenn die erwartete Rendite der
Rentenversicherung aus der Sicht des Einzelnen niedriger ist, als die Rendite in der
privaten Altersvorsorge.129 So erscheint eine steuerfinanzierte Grundrente als
nachteilig im Verhältnis zu einer bloßen Beibehaltung der Beiträge. Im Ergebnis ist
das Modell einer steuerfinanzierten Grundsicherung jedenfalls mangels signifikanter
Vorteile für die Bewältigung der Rentenlasten abzulehnen.130
126 Jäger, a.a.O. S. 53 f.
127 Keller, Zukunft der gesetzlichen Rentensysteme, S. 52 f.
128 Vgl. wissenschaftlicher Beirat beim BMWi, S. 14.
129 Vgl. Bericht der Rürup-Kommission, 2003, S. 111 f.
130 Dazu auch eine sehr kritische Betrachtung aus der Steuerwiderstandsforschung: Mackscheidt,
Über die Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen aus der Sicht der
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II. Parametrische Reformen
Nach anderer Meinung ist keine grundlegende Reform des Alterssicherungssystems
in Deutschland notwendig.131 Die Diskussion um eine vermeintliche Notwendigkeit
einer grundlegenden Reform sei einseitig.132 Wirklich notwendig seien lediglich
Veränderungen im Umlagesystem133, d.h. die Anhebung des Rentenalters, Erhöhung
der Beiträge oder Senkung der Rentenleistungen.134 Für diesen Ansatz spricht, dass
er einfach umzusetzen ist und keine tiefgreifenden Reformen erfordert. Und in der
Tat bietet das Umlagesystem die Möglichkeit, auf veränderte Rahmenbedingungen
zu reagieren. Bei einem wachsenden Anteil von Leistungsempfängern und einem
sinkenden Anteil an Beitragszahlern ist es eine (vermeintlich) rein politische
Entscheidung, wie darauf reagiert wird, ob man die Leistungen senkt oder die Beiträge erhöht. Der Ansatz weist diesbezüglich jedoch eine große Schwäche auf, indem er nicht eine dem Umlagesystem immanente principal-agent-Problematik berücksichtigt und das politische Risiko des Umlagesystems nicht erkennt. Denn aufgrund der demographischen Verschiebung, und damit einhergehender Alterung der
Wählerklientel besteht die Gefahr, daß parametrische Reformen nur in eine
Richtung stattfinden: Die Beiträge oder Steuern werden erhöht, um die steigenden
Rentenlasten zu bewältigen, die Leistungen dagegen werden konstant bleiben oder
steigen. Das politische Risiko des Umlageverfahrens wird unterschätzt.135
1. Das principal-agent-Problem des umlagefinanzierten Alterssicherungssystems
Das System der Alterssicherung in Deutschland ist eng mit gesetzgeberischen Maßnahmen verbunden. Insbesondere aber die gesetzliche Rentenversicherung ist aufgrund der zunehmenden Finanzierungsschwierigkeiten in den letzten Jahren verstärkt zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und der
gesetzgeberischen Tätigkeit geworden. Das SGB VI als Rechtsgrundlage für die gesetzliche Rentenversicherung ist durch seine Rentenformel, die den aktuellen Rentenwert beinhaltet, anfällig für gesetzliche Änderungen. Der aktuelle Rentenwert bestimmt sich durch den Nachhaltigkeitsfaktor, der wiederum als seinen Kern den Parameter ! beinhaltet, von dem es wesentlich abhängt, wie sich die Beitragssätze und
das Leistungsniveau in Relation zueinander entwickeln.136 Daneben verpflichtet die
Vorschrift des § 154 Abs. 3 SGB VI den Gesetzgeber zum Handeln, wenn das Bei-
Steuerwiderstandsforschung, S. 27 ff.. Zur Diskussion auch: Krupp, Kontroversen um den
Sozialstaat, S. 12 f.
131 Krupp, WD 1998, 582; Schmähl, PdW 2000, 407; ders., WD 1994, 507.
132 Krupp, WD 1998, 582 (585); Schmähl, PdW 2000, 407 (425).
133 Schmähl, PdW 2000, S. 428.
134 Dazu Börsch-Supan, Privatisierungsmöglichkeiten der Sozialversicherung in Europa, S. 4 f.
135 Börsch-Supan, Blaupause für eine Rentenreform in Deutschland, S. 11.
136 Siehe oben unter C. III. 2.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Buch thematisiert die Herausforderungen der Alterssicherung in Deutschland unter Berücksichtigung des Europarechts. Der Autor beurteilt das System der gesetzlichen Rentenversicherung aus der Perspektive des Europarechts und kommt zu dem Ergebnis, dass der deutsche Gesetzgeber aufgrund der demografischen Veränderungen das Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung in einem größeren Maße als bislang auf ein kapitalgedecktes System umstellen muss. Dabei geht er auch auf die ökonomischen Möglichkeiten einer derartigen Umstellung ein. Er zeigt auf, welche Handlungsspielräume der Gesetzgeber hat und untersucht, welche Anforderungen hinsichtlich einer wettbewerblichen Ausgestaltung die kapitalgedeckte Vorsorge erfüllen muss. Mit seinem Werk gibt der Autor einen Einblick in die Probleme der Alterssicherung in Deutschland und kommt dabei zu neuen rechtlichen Schlussfolgerungen.