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Das materielle Gesellschaftsrecht ist Gegenstand vielfältiger europäischer Rechtsakte.769 Insbesondere die Elfte Richtlinie770, sog. Zweigniederlassungsrichtlinie, ist
relevant.
Insgesamt bestehen sekundärrechtliche Rahmenbedingungen, die zu berücksichtigen sind. Da sich das Sekundärrecht noch nicht zu einem in sich geschlossenen,
abschließenden Regelwerk verdichtet hat, ist die Analyse der primärrechtlichen
Vorgaben von wesentlicher Bedeutung.
II. Primärrechtliche Ebene
1. Schutz der LLP durch Art. 43, 48 EGV
Auf primärrechtlicher Ebene spielt für die LLP, die einen inländischen Verwaltungssitz anstrebt, vor allem die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43, 48 EGV eine
Rolle, die für alle Gesellschaften, die Erwerbszwecken dienen, gilt und auch Partnerschaft sowie LLP umfasst.771 Es genügt, dass die Gesellschaft in einem Mitgliedstaat gegründet wird und der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung oder die
Hauptniederlassung in der EU liegt.772 In Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit
erfasst sie nicht die vorübergehende, sondern die auf Dauer angelegte selbstständige
Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat.773 Die Dienstleistungsfreiheit ist
subsidiär zur Niederlassungsfreiheit.774 Die Niederlassungsfreiheit greift bei Rechtsanwälten.775
767 Zur Sonderproblematik der Einschränkung der Rechtfertigungsmöglichkeiten in Art. 16
Dienstleistungsrichtlinie in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit bzw. die grenzüberschreitende vorübergehende Dienstleistungserbringung siehe insbesondere Calliess, DVBl 2007,
336, 343f.; Lemor, EuZW 2007, 135, 138f.
768 Siehe nur die Diskussion bei Kühling/Müller, BRAK-Mitt. 1/2008, 5, 9.
769 Siehe nur die Lehrwerke zum Thema Europäisches Gesellschaftsrecht von Grundmann und
Habersack; siehe auch zur Entwicklung des europäischen Gesellschaftsrechts Bayer/Schmidt,
BB 2008, 454.
770 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von
Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. EG Nr. L 395
v. 30.12.1989, S. 36 (Elfte Richtlinie).
771 Grundmann, Rdnr. 12; Oppermann, § 26 Rdnr. 8.
772 Art. 48 Abs. 1 EGV.
773 Oppermann, § 26 Rdnr. 1; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Ziff. 22ff.
774 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Ziff. 22; Art. 50 Abs. 1 EGV.
775 Die in Art. 45 EGV vorgesehene Ausnahme vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit
bei Tätigkeit in Ausübung öffentlicher Gewalt ist eng auszulegen und greift nicht, s. Oppermann, § 26 Rdnr. 55.
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2. Art. 43, 48 EGV als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot
Zielsetzung der Niederlassungsfreiheit ist gemäß Art. 43 Abs. 2 EGV die Inländergleichbehandlung, so dass ein Diskriminierungsverbot besteht.776 Der EuGH hat das
Diskriminierungsverbot zu einem Beschränkungsverbot ausgeweitet.777 Mithin müssen auch Normen, die gleichermaßen für In- und Ausländer gelten, mit dem Europarecht vereinbar sein.778 Beschränkungen sind Maßnahmen, die die Ausübung der
durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger
attraktiv machen können 779. Dieser Begriff umfasst nicht nur das Unterbinden780,
sondern auch das Behindern oder die bloße Reduktion der Attraktivität der Aus-
übung der Niederlassungsfreiheit.781 Somit ist der Beschränkungstatbestand weit
gefasst.782
3. Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit können gerechtfertigt sein. Art. 46 EGV
ist bei nationalen Maßnahmen, die unterschiedslos Inländer und Ausländer betreffen, nicht einschlägig.783 Für die Niederlassungsfreiheit gilt, wie für alle Grundfreiheiten, ein vierstufiger Rechtfertigungsstandard.784 Danach müssen Beschränkungen
vier Voraussetzungen erfüllen:
Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden
Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das
hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. Urteil vom 31. März 1993
in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32). 785
776 Oppermann, § 26 Rdnr. 13, 17.
777 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Ziff. 37; Oppermann, § 26 Rdnr. 13;
Streinz, Rdnr. 797.
778 Streinz, Rdnr. 797, 803.
779 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Ziff. 37.
780 EuGH, Rs. C-439/99 (Kommission/Italien), Slg. 2002, I-305, Ziff. 22.
781 Eidenmüller/Eidenmüller, § 3 Rdnr. 4; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165,
Ziff. 37.
782 Eidenmüller/Eidenmüller, § 3 Rdnr. 4.
783 Streinz, Rdnr. 830.
784 Streinz, Rdnr. 804.
785 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Ziff. 37; zum Rechtfertigungsstandard
siehe auch EuGH, Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299, Ziff. 32.
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4. Ergebnis
Insgesamt verdichten sich die europarechtlichen Vorgaben zu einer übergeordneten
Prüfungsebene und sind bei der Anwendung nationaler Vorschriften zu beachten.
III. Die Problematik der Scheinauslandsgesellschaft in der EU
1. Einführung
Ausgehend von den europarechtlichen Rahmenbedingungen scheint es offensichtlich, dass sich die englische LLP auf Dauer in Deutschland niederlassen kann und
wie eine natürliche Person von der Niederlassungsfreiheit profitiert. Doch bestand
lange Zeit Unsicherheit darüber, bis zu welchem Grad Gesellschaften zum Kreis der
Niederlassungsbegünstigten zählen.786 Im Fall von sog. Scheinauslandsgesellschaften , die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates gegründet werden, aber
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Inland haben, verfolgte Deutschland in ständiger Rechtsprechung eine Politik der Nichtanerkennung.787 Im zu untersuchenden
Fall einer LLP, die ausschließlich in Deutschland zur Rechtsberatung genutzt wird,
würde eine solche Scheinauslandsgesellschaft vorliegen, der die Anerkennung
versagt bliebe.
Im Folgenden wird die Entwicklung des Umgangs mit EU-Gesellschaften insbesondere unter Berücksichtigung der wegweisenden Urteile Überseering788 und
Inspire Art789 und auch der aktuellen Entscheidung im Cartesio-Verfahren skizziert.790
786 Siehe Vorlagebeschluss des BGH v. 30.3.2000 VII ZR 370/98, ZIP 2000, 967.
787 BGH, Urt. v. 5.11.1980 VIII ZR 230/79, BGHZ 78, 318, 334; BGH, Urt. v. 21.3.1986 V
ZR 10/85, BGHZ 97, 269, 271f.; OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.9.1998 5 U 1/98, JZ 2000,
203; LG Marburg, Urt. v. 27.8.1992 1 O 115/92, NJW-RR 1993, 222; LG Potsdam, Urt. v.
30.9.1999 31 O 134/98, RIW 2000, 145; LG Stuttgart, Urt. v. 31.7.1989 7 O 64/89, IPRax
1991, 118.
788 EuGH, Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919.
789 EuGH, Rs. C-167/01 (Inspire Art), Slg. 2003, I-10155.
790 EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. 210/06 (Cartesio), erhältlich in Beck, BeckRS 2008, 71325,
auch abrufbar unter .
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References
Zusammenfassung
Die englische Limited Liability Partnership (LLP) kann für in Deutschland niedergelassene Rechtsanwälte eine attraktive Alternative sein. Die Arbeit untersucht die in der Praxis für solche Anwalts-LLPs relevanten berufs-, haftungs-, gesellschafts- und registerrechtlichen Fragen aus internationalprivatrechtlicher und europarechtlicher Perspektive und vergleicht funktional die LLP mit Partnerschaft und GmbH. Insbesondere erörtert die Autorin die Haftung der LLP-Gesellschafter für Berufsfehler sowie die Frage, welche Normen der BRAO Anwendung finden. Die kollisionsrechtlichen Methoden der Substitution und der Anpassung werden diskutiert. De lege ferenda wird eine Neuregelung für das Kollisionsrecht vorgeschlagen.