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4. Ausweisungspraxis
Die rechtlichen Grundlagen für die Ausweisung werden im FreizügG bzw. AufenthG normiert und sind somit für das ganze Bundesgebiet wirksam. Die Ausführung dieser Gesetze obliegt jedoch in weiten Teilen den Ausländerbehörden, also
Dienststellen des Landes oder einer kommunalen Gebietskörperschaft, die der
Aufsicht eines Bundeslandes unterliegen. Die Bundesregierung kann insoweit
mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen
(Artikel 84 Abs. 2 GG). Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
vom 2. März 1999475 wurde festgestellt, dass diese Ermächtigung nicht von einem
Fachministerium genutzt werden kann, sondern nur von der Bundesregierung als
Kollegialorgan.
Bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes enthielt die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz (AuslG-VwV)476 Regelungen, Hinweise und Erläuterungen zur Ausführung des Ausländergesetzes und der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen sowie, soweit dies wegen des jeweiligen
Sachzusammenhangs geboten war, Erläuterungen zum Aufenthaltsgesetz/EWG
und Hinweise auf Vorschriften anderer Gesetze im Sinne von § 1 Abs. 1 AuslG.
Die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz war insofern von großer Bedeutung, als sie insbesondere für die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe
wie für die Ausfüllung der Ermessensermächtigung, aber auch im Hinblick auf
eine bundeseinheitlich gleichmäßige Ausführung des Ausländergesetzes und der
aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen galt. Mit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes bzw. Freizügigkeitsgesetzes/EU wurde die AuslG-
VwV außer Kraft gesetzt. Mit Stand vom 22.12.2004 erließ das Bundesinnenministerium dafür vorläufige Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz und
zum Freizügigkeitsgesetz/EU.477
Die Innenministerien der Länder können unter Berücksichtigung der Anwendungshinweise zusätzlich gesonderte und ergänzende Erlasse zu den Anwendungshinweisen des Bundes anfertigen. Einige Bundesländer führten zusätzliche
Erlasse bzw. Verordnungen ein, die insbesondere das Ausweisungsverfahren konkretisieren. Hierin werden etwa die Zuständigkeiten der Ausländerbehörden im
Ausweisungsverfahren durch zusätzliche Zuständigkeitsverordnungen oder die
Befristung der Sperrwirkung einer Ausweisung geregelt. Gemäß § 63 Abs. 1 Satz
1 und 2 AuslG (§ 71 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG) können die Landesregie-
475 Vgl. Bundesverfassungsgericht – Urteil vom 2.3.1999 – 2 BvF 1/94.
476 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz (AuslG-VwV) vom 28.06.2000.
477 Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU. Stand: 22.12.2004.
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rungen bestimmen, dass für einzelne Aufgaben nur eine oder mehrere Ausländerbehörden zuständig ist bzw. sind. Abhängig von der politischen Struktur eines
Bundeslandes gliedert sich auch die Kompetenzverteilung der Ausländerbehörden auf verschiedene Ebenen.478
Beispielsweise die Landesregierung von Baden-Württemberg erließ zu den Anwendungshinweisen des Bundes zusätzliche vorläufige Anwendungshinweise
(ZV-AufenthR 2005) zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/
EU.479 Gleichzeitig wurden mit einer Verordnung die Zuständigkeiten der einzelnen Ausländerbehörden (AAZuVO) in einem neuen Verordnungstext formuliert.480 Gemäß § 2 AAZuVO ist das Landesinnenministerium die oberste Ausländerbehörde, während die vier Regierungspräsidien Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart
und Tübingen die höheren Ausländerbehörden und die unteren Verwaltungsbehörden die unteren Ausländerbehörden bilden. Die unteren Ausländerbehörden
sind für die Ermessensausweisungen – mit Ausnahme der Tatbestände gemäß
§ 55 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG – zuständig. Die Regierungspräsidien ordnen gemäß
§ 10 Abs. 1 und 2 AAZuVO die Regel- und Zwingenden Ausweisungen an.
Beispielsweise im Bundesland Nordrhein-Westfalen regelt die Verordnung über
die Zuständigkeit im Ausländerwesen (ZustAVO) die Aufgabenverteilung der
Ausländerbehörden.481 Ausländerbehörden sind nach § 1 Nr. 1, 2 und 3 ZustAVO
die Ordnungsbehörden der Kreise, die örtlichen Ordnungsbehörden der Großen
kreisangehörigen Städte und kreisfreien Städte sowie die Kreisordnungsbehörden
der Städte Bielefeld, Dortmund, Düsseldorf und Köln als Zentrale Ausländerbehörden (ZAB). Die Ausländerbehörden erlassen alle drei Formen der Ausweisungen selbst. In Fällen von Abschiebehaft sowie in Fällen, in denen sich ausreisepflichtige Ausländer in Strafhaft befinden, übernehmen die Zentralen Ausländerbehörden die Fälle in Form interner Amtshilfe (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ZustAVO).
Die exemplarische Darstellung des Vorhandenseins zusätzlicher Landesverordnungen und -erlasse zu den vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums verdeutlicht die – im Föderalismus vielleicht unabdingbaren – un-
478 In folgenden deutschen Ländern gibt es Regierungsbezirke: Baden-Württemberg (4 Regierungsbezirke), Bayern (Bezirke der 7 Regierungen), Hessen (3 Regierungsbezirke) Nordrhein-Westfalen (5 Bezirksregierungen), Sachsen (3 Regierungsbezirke). In folgenden
Ländern wurden die Regierungsbezirke abgeschafft: Rheinland-Pfalz (1999), Sachsen-
Anhalt (2003), Niedersachsen (2004).
479 Zusammengefasste Vorgaben des Innenministeriums zur Anwendung aufenthalts- und
asylrechtlicher Regelungen ab dem 1. Januar 2005 (ZV-AufenthR 2005).
480 Verordnung der Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach
dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylverfahrensgesetz sowie über die Verteilung unerlaubt
eingereister Ausländer (Aufenthalts- und Asyl- Zuständigkeitsverordnung – AAZuVO.
Stand: 11. Januar 2005.
481 Verordnung über Zuständigkeiten im Ausländerwesen (ZustAVO). Stand: 15. Februar
2005.
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terschiedlichen Ausweisungsverfahren und somit auch die damit verbundene
Ausweisungspraxis in Deutschland. Nicht nur im Bereich der Befristung der
Sperrwirkung sind Unterschiede von Bundesland zu Bundesland zu beobachten,
auch im Bereich der Zuständigkeit und der damit verbundenen Kompetenzverteilung sind diese vorhanden.
4.1 Probleme der Datenerhebung
Eine der zentralen Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit war die Datenerhebung und Datenanalyse. Es ging darum, Daten über Ausweisungs- und Abschiebungsmaßnahmen von den untersuchten Gruppen zu erheben und diese auszuwerten.
Schwierigkeiten ergaben sich aus dem Umstand, dass sowohl quantitative als
auch qualitative Variablen erhoben werden mussten. Die quantitativen Variablen
sagen etwas darüber aus, wie viele Personen aus den beiden Gruppen (Unionsbürger/Türken) ausgewiesen bzw. abgeschoben wurden. Qualitative Variablen
sollten die einzelnen Betroffenen in Kategorien klassifizieren unter Berücksichtigung der Attribute, durch die sie sich unterscheiden. Der spezielle Ausweisungstatbestand, aufgrund dessen ein türkischer Staatsangehöriger ausgewiesen
wurde, kann solch ein Klassifizierungsmerkmal darstellen.
Die Datenerhebung beruht auf der Annahme, dass es möglich ist, eine angemessene Untersuchung der beiden Gruppen zu erzielen. Die Annahme kann allerdings vor dem Hintergrund der Forschungsthematik kritisch hinterfragt werden.
Denn die unterschiedlichen Voraussetzungen bei der Datenerhebung in Form unterschiedlicher Erfassungs- und Auswertungsformen der einzelnen Behörden lassen Zweifel hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Daten bestehen.
Die Notwendigkeit der eigenen Datenerhebung bei den verschiedenen Verwaltungsorganen ergab sich nicht zuletzt deshalb, weil weder in der Fachliteratur
noch in den elektronischen Medien angemessen Daten hierzu zur Verfügung stehen. Weder das Bundesinnenministerium noch die einzelnen Innenministerien
und die dazugehörigen Ausländerbehörden führen öffentlich zugängliche Statistiken über ihre Ausweisungs- und Abschiebungszahlen.
Demzufolge konnten auch keine Daten über Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Verbände, Vereine und soziale Einrichtungen in Erfahrung gebracht wer-
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den.482 Somit musste die Datenerhebung und die Datenrecherche fernmündlich,
postalisch und per E-Mail erfolgen. Eine Recherche und Auswertung vor Ort
wurde von sämtlichen Behörden aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen
nicht zugelassen.
4.1.1 Quantitative Probleme bei der Datenerhebung
Obwohl die Thematik der Ausweisung und Abschiebung von Ausländern ein aus
gesellschaftspolitischer Sicht sensibles Politikfeld darstellt, konnte – bis auf wenige Fälle – eine generelle Kooperationsbereitschaft bei allen kontaktierten Behörden und Ämtern verzeichnet werden.
Die Bereitstellung der Daten von Seiten der Behörden verlief allerdings sehr unterschiedlich. Unter rein quantitativen Aspekten muss erwähnt werden, dass beinahe alle Behörden eine Bereitschaft zur Datenübermittlung äußerten, sich jedoch aufgrund des Mehraufwands und der personellen Unterbesetzung dazu nicht
im Stande sahen. Eine Abfrage der Daten hätte anscheinend zur Folge gehabt,
dass Suchkriterien hätten erarbeitet werden müssen, die wiederum von der EDV-
Abteilung in das Suchsystem hätten eingegeben werden müssen. Das Zusammenlaufen der einzelnen Ausweisungs- und Abschiebungsstatistiken in einer gemeinsamen Datenbank ist derzeit nirgendwo gegeben.
Ferner konnte festgestellt werden, dass viele kontaktierte Behörden und Ämter
generell keine Ausweisungs- und Abschiebungsstatistiken veröffentlichen bzw.
an Drittpersonen weitergeben. Diese Vorgehensweise bzw. amtsinterne Regelung
illustriert die angesprochene Sensibilität beim Thema Ausweisung und Abschiebung von Ausländern.
Im Übrigen konnte in einigen Ausländerbehörden beobachtet werden, dass diese
weder Statistiken zu Ausweisungs- und Abschiebungsmaßnahmen führen noch
diese als interessant bzw. relevant ansehen.
482 Parteien haben aufgrund ihrer juristischen Position innerhalb des politischen Systems der
Bundesrepublik Zugang zu Ausweisungs- und Abschiebungsstatistiken. Ob sie diesen nutzen hängt davon ab, ob ein parteipolitisches Interesse hieran besteht. Etwa die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke und die Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag stellten im Jahr
2001 eine kleine Anfrage im Bundestag. Hierbei galt das Interesse der PDS den Abschiebungen des Jahres 2000, die auf dem Luftweg durchgeführt wurden. Vgl. hierzu: Deutscher
Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/5491; Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla
Jelpke und der Fraktion der PDS – Abschiebungen auf dem Luftweg im Jahr 2000.
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4.1.2 Qualitative Probleme bei der Datenerhebung
Neben den numerischen Angaben über die Ausweisungs- und Abschiebungsmaßnahmen galt es vor allem qualitative Angaben zu den betroffenen Personen zu ermitteln. Insbesondere das sozioökonomische Profil der Betroffenen galt es aufzuklären. Merkmale wie Geburtsort, Schul- und Berufsabschluss sowie Einkommen lassen differenzierte Aussagen zu. So hätten etwa die tatsächlichen Lebensumstände der Betroffenen ermittelt werden können. Allgemeingültige Aussagen
über den Integrationsstand, die »Verwurzelung« mit den jeweiligen Aufenthaltsorten und die Frage nach der aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen
wären von Interesse gewesen. Ferner wäre der Rückschluss von sozioökonomischen Aspekten auf Aufenthaltszeiten der Betroffenen grob ermöglicht worden. Auch diese Daten konnten jedoch nicht ermittelt werden. Denn sie werden
– mit Ausnahme des Geburtsortes – von den einzelnen Ausländerbehörden nicht
erfasst. Demzufolge liegen sie auch weder den Innenministerien der Länder, dem
Bundesinnenministerium noch dem Ausländerzentralregister (Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge) vor.
Weitere wichtige Klassifizierungsmerkmale stellen die aufenthalts- und strafrechtlichen Sachverhalte dar. Das Merkmal »Aufenthaltsstatus« hätte etwa in der
türkischen Gruppe zusätzliche Angaben darüber erlaubt, inwiefern ein besonderer Ausweisungsschutz bei den Betroffenen vorlag. Ein weiteres Klassifikationsmerkmal innerhalb der türkischen Gruppe wäre gewesen, bei wie vielen der Betroffenen es sich um assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige gehandelt hat. Eine Aufgliederung hätte gezeigt, wie viele der Betroffenen trotz europarechtlichem Ausweisungsschutz ausgewiesen bzw. abgeschoben worden sind.
Auch diese Merkmale werden von nahezu allen Behörden nicht gesondert erfasst.
Ausführliche, detaillierte und wirklich differenzierte Angaben darüber, wie viele
Personen jeweils ausgewiesen und wie viele abgeschoben worden sind, konnten
nur teilweise ermittelt werden. Somit muss bei der Interpretation der Abschiebezahlen – soweit keine Angaben über den Aufenthaltsstatus vorliegen – davon ausgegangen werden, dass diese etwa auch abgelehnte Asylfälle beinhalten und so
die Ermittlung der tatsächlichen Anzahl der von einer Ausweisung Betroffenen
in beiden Gruppen erschwert wird.
Des Weiteren hätten Angaben zu strafrechtlichen Sachverhalten Aufschluss dar-
über geben können, anhand welcher Straftatbestände die Betroffenen ausgewiesen bzw. abgeschoben wurden. Insbesondere die Klassifizierung nach Verstößen
gegen das Betäubungsmittelgesetz als auch nach Gewaltdelikten hätte Aussagen
über die Lebensumstände der Betroffenen zugelassen. Das Fehlen dieser Angaben hätte durch die Aufgliederung in die einzelnen Ausweisungsformen (Ermessens-, Regel- und Zwingende Ausweisung) kompensiert werden können. Diese
hätten einen Rückschluss über die Schwere der Taten erlaubt. Zu alledem jedoch
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References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.