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Zwingende bzw. Regel-Ausweisung ist demzufolge rechtswidrig. Ferner muss
die Entwicklung während der Haft und hernach überprüft werden (Sozialprognose, Wiederholungsgefahr). Dies soll durch eine Instanz ermittelt werden, die
dem Verwaltungsgericht vorgeschaltet ist. Hierbei soll die eingetretene Sach- und
Rechtslage nach der letzten Behördenentscheidung berücksichtigt werden (Fälle
Çetinkaya, Ünal). Andernfalls sei die stichhaltige Sozialprognose nicht möglich.
Auch wenn der ARB 1/80 einen weitaus günstigeren Ausweisungsschutz gegen-
über dem AufenthG (zuvor AuslG) beinhaltet, muss doch verdeutlicht werden,
dass zwischen zwei Gruppen mit unterschiedlichen Rechtspositionen unterschieden werden muss. Denn die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger, die für
sich keine Rechte aus dem Beschluss 1/80 herleiten können, richtet sich weiterhin
allein nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes (Ausländergesetzes). Ein
absoluter Ausweisungsschutz für einen besonderen Personenkreis von türkischen
Staatsangehörigen ist im Übrigen auch durch den ARB 1/80 nicht gewährleistet.
3.7. Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Die Möglichkeit von Ausweisung und Abschiebung wird neben den Urteilen des
EuGH auch durch die Entscheidungen des Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) begrenzt. Der EGMR judiziert die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK), der alle EU-Mitgliedstaaten und die Türkei
angehören. Auch die Entscheidungen des EGMR beanspruchen eine gewisse Bindungswirkung, weswegen sie rechtspolitisch von großer Bedeutung sind.
3.7.1 Bindungswirkung
Die Bundesrepublik hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) am
4. November 1950 mitunterzeichnet und die Normen der EMRK durch das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG am 7. August 1952 in das deutsche
Recht inkorporiert bzw. transformiert. Hierdurch wurde ein entsprechender
Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Die Normen dieses völkerrechtlichen Vertrags
sind seither für staatliche Organe und Staatsbürger der Bundesrepublik bindend.445 Innerhalb der deutschen Rechtsordnung hat die transformierte EMRK
445 Vgl. Ulsamer, Gerhard (1985), Europäische Menschenrechtskonvention als innerstaatlich
geltendes Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Frowein, Jochen/Ulsamer, Gerhard
(Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention und nationaler Rechtsschutz, Heidelberg, S. 35.
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den Rang eines einfachen Gesetzesrechts und ist so formal mit anderen in das innerstaatliche Recht transformierten völkerrechtlichen Verträgen gleichgestellt.446
Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sind sowohl die Rechtsprechung als auch die vollziehende Gewalt auf die Einhaltung, Beachtung und Verwirklichung der EMRK als
innerstaatlich geltendes Recht verpflichtet.447 Die Einordnung als einfaches Gesetz innerhalb der Rechtsordnung wird vom Völkerrecht und somit von der Konvention nicht eingeschränkt und obliegt der innerstaatlichen Entscheidung.448
Dies hat zur Folge, dass die Konvention in Deutschland weder den Rang einer
Verfassung oder mittelbaren Verfassung einnimmt.449
Die Einstufung als »einfaches« Bundesgesetz innerhalb der Normenhierarchie
führt dazu, dass die EMRK kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab sind. Eine Verfassungsbeschwerde war und ist folglich unzulässig, wenn
sie lediglich auf eine behauptete Verletzung der EMRK gestützt wird.450
Gemäß Art. 46 EMRK haben sich die Vertragsparteien dazu verpflichtet, ein endgültiges Urteil des EGMR zu befolgen. Somit sind die am Verfahren beteiligten
Parteien dazu gehalten, die Urteile des Gerichtshofs als verbindlich anzuerkennen. Nichtbeteiligte Parteien sollen die Entscheidungen des Gerichtshofs mit ihrer nationalen Rechtsordnung abgleichen und sich an diesen orientieren. Eine direkte Bindungswirkung wird primär bei den am Verfahren beteiligten Parteien in
Verbindung mit dem endgültigen Urteil in Bezug auf den bestimmten Streitgegenstand (res iudicata) entfaltet.
446 Vgl. Ernst, Martina (1994), Die Haltung Deutschlands und Frankreichs zur EMRK: unter
besonderer Berücksichtigung der Anwendung des Art. 6 Abs. 3 in den beiden Staaten,
Frankfurt am Main, S. 147.
447 Vgl. Ulsamer, Gerhard (1985), Europäische Menschenrechtskonvention als innerstaatlich
geltendes Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Frowein, Jochen/Ulsamer, Gerhard
(Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention und nationaler Rechtsschutz, Heidelberg, S. 43.
448 Innerhalb der Unionsstaaten nimmt die EMRK einen unterschiedlichen Rang in den jeweiligen Rechtsordnungen ein. Weder das Vereinigte Königreich noch Irland, Schweden, Norwegen, Island und Malta räumen der Konvention den Rang eines innerstaatlichen Rechts
ein. In Österreich hat die Konvention Verfassungsrang. In den Benelux-Staaten und in
Frankreich geht die Konvention den Gesetzen vor. Vgl. hierzu Hilf, Meinhard (1986), Der
Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention im deutschen Recht, in: Mahrenholz,
Ernst/Hilf, Meinhard/Klein, Eckart (Hrsg.), (1987), Entwicklung der Menschenrechte
innerhalb der Staaten des Europarates, Heidelberg, S. 31 f.
449 Vgl. Hilf, Meinhard (1986), Der Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention im
deutschen Recht, in: Mahrenholz, Ernst/Hilf, Meinhard/Klein, Eckart (Hrsg.), (1987), Entwicklung der Menschenrechte innerhalb der Staaten des Europarates, Heidelberg, S. 35 f.
450 Vgl. Ernst, Martina (1994), Die Haltung Deutschlands und Frankreichs zur EMRK: unter
besonderer Berücksichtigung der Anwendung des Art. 6 Abs. 3 in den beiden Staaten,
Frankfurt am Main, S. 147.
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Im Falle einer Konventionsverletzung erlässt der Gerichtshof ein Feststellungsurteil. Dieses verpflichtet die betroffene Vertragspartei, den Zustand wieder herzustellen, der vor der Konventionsverletzung bestand.451
Aufgrund der Rangordnung der EMRK innerhalb der deutschen Normenhierarchie konnte grundsätzlich die lex-posterior-Regel angewendet werden. Das bedeutet, dass später erlassenes Bundesrecht bei Widersprüchlichkeit der EMRK
vorging. Zeitlich früher erlassenes Bundesrecht wurde durch die EMRK modifiziert oder verdrängt.452 Jedoch wurden die Gerichte durch eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts dazu angehalten, völkerrechtliche Verträge auch
dann nach dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit anzuwenden, wenn
diese durch spätere Gesetze modifiziert oder aufgehoben wurden.453
Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in seinem Urteil vom 16. Dezember
1999 nicht nur den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Anwendung, sondern
wies der gefestigten Rechtsprechung des EGMR einen Anwendungsvorrang
zu.454 In der zu behandelnden Rechtssache ging es um eine Revision, die darauf
beruhte, dass ein Normenkontrollantrag ohne mündliche Verhandlung abgewiesen und ausgeführt wurde. Das Gericht urteilte, dass im gegebenen Fall455 Art. 6
EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu beachten
sei. Würde entgegen Art. 6 EMRK ohne öffentliche mündliche Verhandlung
durch Beschluss entschieden, liege ein »absoluter Revisionsgrund«456 vor.
In den Gründen wies das Gericht darauf hin, dass der EGMR die Konvention in
evolutiv-dynamischer Weise auslegt und so ihren Anwendungsbereich allmählich
erweitert. Die Entscheidungspraxis des EGMR zeige, dass etwa das Recht auf
Grundeigentum bzw. das Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums zu den »zivilrechtlichen Ansprüchen« i.S. von Art. 6 EMRK gehöre. Dadurch habe der Gerichtshof den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK schrittweise auch auf Streitigkeiten erstreckt, die nach deutschem Recht verwaltungsrechtlicher Natur sind.
Der Anwendungsvorrang der Konvention in dieser Rechtssache ergebe sich nicht
aus der Rechtskraftwirkung, die den Urteilen des Gerichtshofs aufgrund von Art.
46 EMRK zukommen würde, sondern aufgrund der rechtlichen Wirkung, die ihrer Vertragsauslegung im deutschen Rechtsraum zukomme.
451 Vgl. Bundesverfassungsgericht – Urteil vom 14.10.2004 – Rs. 2 BvR 1481/04.
452 Vgl. Ernst, Martina (1994), Die Haltung Deutschlands und Frankreichs zur EMRK: unter
besonderer Berücksichtigung der Anwendung des Art. 6 Abs. 3 in den beiden Staaten,
Frankfurt am Main, S. 148.
453 Vgl. ebenda, S. 152.
454 Vgl. Bundesverwaltungsgericht – Urteil vom 16.12.1999 – Rs. 4 CN 9/98, in: NVwZ 2000, Heft
7, S. 810.
455 Es handelte sich um eine Baustreitigkeit.
456 Bundesverwaltungsgericht – Urteil vom 16.12.1999 – Rs. 4 CN 9/98, in: NVwZ 2000, Heft
7, S. 810.
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Jede Entscheidung des Gerichtshofs sei in erster Linie ein Einzelfall, die jeweils
die am Verfahren beteiligten Parteien, binden würde. Es handele sich somit um
die Feststellung der Konventionswidrigkeit eines ganz bestimmten staatlichen
Verhaltens. Unter bestimmten Voraussetzungen sei es jedoch möglich, den Auslegungen der Konvention durch den Gerichtshof eine über den Einzelfall hinausreichende normative Leitfunktion beizumessen, an der sich die Vertragsstaaten zu
orientieren haben. Diese Annahme konkretisierte das BVerwG, in dem es auf eine
gefestigte Rechtsprechung in der Auslegung einer Konventionsbestimmung von
Seiten des EGMR verwies. Sei diese allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung festzustellen, so hätten die deutschen (Verwaltungs-) Gerichte diese vorrangig anzuwenden. Das Gericht betonte in diesem
Zusammenhang, dass die durch die Konvention gewährleisteten Rechte weitgehend ineffektiv bzw. wirkungslos wären, wenn sich die gefestigte Rechtssprechung nicht über den Einzelfall hinaus erstrecken könnte. Hieraus folge zwar kein
Verhaltensgebot, sich strikt an die vom Gerichtshof vertretene Auslegung zu binden, jedoch trage eine abweichende Entscheidung hierfür die Argumentationslast.
Im Fall »Görgülü« hat das Bundesverfassungsgericht am 14.10.2004 der Bindungswirkung von EMRK-Entscheidungen einen verfassungsrechtlichen Aspekt
hinzugefügt.457 Der Görgülü-Beschluss gibt zwar keine klare Antwort auf die
Frage, ob sich die Bindungswirkung auf die Entscheidungen des EGMR erstreckt.
Das Bundesverfassungsgericht eröffnete jedoch die Möglichkeit, eine Konventionsverletzung mittelbar zu rügen. Dies basiert auf dem argumentativen Weg der
Verletzung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit
dem jeweils einschlägigen Grundrecht. Seither wacht das Bundesverfassungsgericht gewissermaßen selbst über die Wahrung der Konventionsgarantien. Dies hat
zur Folge, dass ein Betroffener zwar nicht unter direkter Berufung auf die EMRK,
wohl aber unter Berufung auf das mittels des Rechtsstaatsprinzips aufgeladene
vergleichbare Grundrecht des GG Verfassungsbeschwerde erheben kann.458 Auch
aus diesem Grund haben die Ausländerbehörden und Gerichte nunmehr folgende
Leitentscheidungen des EGMR mit neuer Ernsthaftigkeit zu beachten.
457 Der Beschwerdeführer legte zuvor eine Individualbeschwerde beim EGMR hinsichtlich
desselben Falles ein. Die Beschwerde hatte Erfolg. Vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht
– Entscheidung vom 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04.
458 Vgl. Bergmann, Jan (2006), Diener dreier Herren? – Der Instanzrichter zwischen BVerfG,
EuGH und EGMR, in: Europarecht, Heft1-2006, S. 106 ff.
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3.7.2 Einzelfälle des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu
Art. 8 EMRK
Um das Schutzkonzept des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in
Fällen der Ausweisung besser verstehen zu können, seien hier einige Einzelfälle
aufgeführt.
3.7.2.1 Der Fall »Moustaquim« – Ausweisungsschutz der 2. Generation
Die Menschenrechtsbeschwerde des marokkanischen Staatsangehörigen beim
EGMR hatte Erfolg. Herr Moustaquim hatte nach seinem zweiten Lebensjahr Marokko für lediglich zwei Tage besucht. Er und seine Familie lebten in Belgien. Er
hatte keinerlei Beziehungen zum Herkunftsland seiner Eltern. Er konnte lediglich
einige Worte Arabisch und seine Muttersprache war Französisch. Bis zum siebzehnten Lebensalter hatte Herr Moustaquim 22 schwere Diebstähle begangen,
wobei die letzte Straftat mit einer zweijährigen Freiheitsstrafe geahndet wurde.
Fünf Jahre später wurde die Ausweisung verfügt. Die Grundlage für den ihm vom
EGMR zuerkannten Ausweisungsschutz war Art. 8 Abs. 1 der EMRK, der das
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert. Zwar ermöglicht
Absatz 2 der Norm Einschränkungen aufgrund des ordre public, dieser wurde jedoch vom Gerichtshof geringer gewichtet als das Interesse des Beschwerdeführers am weiteren Verbleib in Belgien. Ausschlaggebend hierfür waren der Schutz
des familiären Lebens und die fehlenden arabischen Sprachkenntnisse.459
Der EGMR stellte also fest, dass es einen Eingriff in das Recht auf Achtung des
Familienlebens darstellen kann, wenn eine Person aus einem Land ausgewiesen
wird, in dem ihre nahen Verwandten wohnen.
3.7.2.2 Der Fall »Beldjoudi« – Ausweisungsschutz für Eheleute der
2. Generation
Der mit einer Französin verheiratete und in Frankreich geborene algerische
Staatsangehörige Beldjoudi, wurde zwischen 1969 und 1986 zu insgesamt zwölf
Jahren und fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Im Jahre 1991 wurde er wegen des
Verdachts der qualifizierten Hehlerei in U-Haft genommen. Die schon 1979 verfügte Ausweisung wurde nicht vollstreckt. Die Menschenrechtsbeschwerde vor
dem EGMR war erfolgreich. Der EGMR hob hervor, dass der Beschwerdeführer
die arabische Sprache nicht verstehe und außer seiner Staatsangehörigkeit keine
Beziehungen zu Algerien habe. Weiterhin betonte der EGMR, dass die Ausweisung einen Nachzug der Ehefrau nach Algerien erzwingen würde, die kein Ara-
459 Vgl. EGMR, Urteil vom 10.4.1989 – Nr. 12313/86 (Moustaquim), in: InfAuslR 1991, S. 66 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.