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auf den stärkeren Verfolgungsdruck seitens der Strafverfolgungsorgane zurückgeführt.164
Die Labeling-Ansätze haben jedoch große Schwächen. So wird die Entstehung
der Straftat nicht als erklärungs- bzw. untersuchungsbedürftig angesehen.165 Soziostrukturelle und -kulturelle Aspekte, die im Allgemeinen als Determinanten
für deviantes Verhalten anerkannt sind, werden nicht herangezogen. Dies hat zur
Folge, dass ein Labeling-Ansatz kaum Erkenntnisse für Präventivmaßnahmen zur
Senkung der Ausländerkriminalität anbieten kann.
Die Annahme, dass Ausländer durch gezielte Kriminalisierung in gesellschaftliche Randlagen gedrängt werden, kann empirisch weder überprüft noch nachvollzogen werden.166
2.6.2 Kriminologische Erklärungsmodelle
Pathologische Ansätze, die sich auf medizinische und biologische Erkenntnisse
stützen, lassen außer Acht, dass Kriminalität auch auf multiple gesellschaftliche
Ursachen zurückzuführen ist. Soziale Faktoren werden in diesen Ansätzen dennoch außer Acht gelassen, so dass sie hier als nicht weiterführend eingestuft werden können.
Der Erklärungswert von Labeling-Ansätzen ist jedenfalls hinsichtlich Ausländerkriminalität ebenso als recht gering einzustufen. Zwar verdeutlichen diese Theorien, dass die Definition und Bedeutung des »Kriminellen« einem gesellschaftlichen Wertewandel unterworfen ist, jedoch müssen die postulierten staatlichen
Diskriminierungen in Frage gestellt werden.167
Die ätiologischen Ansätze scheinen eher geeignet, Aussagen über die Kriminalität von bestimmten Ausländergruppen zu machen. Während die Anomietheorie
nur eine generelle Aussagekraft besitzt, nimmt die Kulturkonflikttheorie insoweit
eine besondere Stellung ein. Der Ansatz der äußeren Konflikte kann zwar wohl
nur zur Analysierung weniger Sonderfälle herangezogen werden. Der Ansatz des
inneren Konflikts hat dagegen wohl einen hohen Erklärungswert, jedenfalls soweit es um die Ursachenforschung zur Kriminalität von jugendlichen Ausländern
der zweiten und dritten Generation geht. Dies gilt in gleicher Weise auch für die
Subkulturtheorie, die den Fokus ihrer Betrachtung auf die widersprüchlichen Verhaltensanforderungen zweier Kulturen richtet. Die daraus resultierenden subkul-
164 Vgl. Rebmann, Matthias (1998), Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland – Eine Analyse der polizeilichen registrierten Kriminalität von 1986 bis 1995, Freiburg i. Br. 1998, S. 304.
165 Vgl. ebenda, S. 302.
166 Vgl. ebenda, S. 307.
167 Vgl. ebenda.
85
turellen Orientierungen und Verhaltensweisen verdeutlichen ebenfalls gewisse
Ursachen für Kriminalität in der zweiten und dritten Ausländergeneration.168
2.7 Sucht und Migration
Betrachtet man die Kriminalität von Ausländern im Einzelnen, sticht der signifikante Verstoß von ausländischen Jugendlichen und Erwachsenen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ins Auge. Wie durch die PKS gezeigt werden
konnte, stellt ein Großteil der Delikte, die von ausländischen Jugendlichen und
Erwachsenen begangen werden, Straftaten gegen das BtMG dar. Seit Mitte der
neunziger Jahre treten Migranten verstärkt als Konsumenten von Drogen auf.
Schätzungsweise 20% aller Drogenkonsumenten in den Ballungszentren Berlin,
Frankfurt, Hannover, Stuttgart und Köln sind ausländischer Herkunft.169
Migration wirkt sich auf alle Lebensbereiche einer Person aus und kann mannigfaltige Probleme hervorrufen. Die Suchtproblematik bei Ausländern wird nicht
zuletzt als der Versuch verstanden, die migrationsbedingten Probleme durch
»Flucht« zu lösen. Die Gründe, warum es zum Drogenmissbrauch kommt, sind
weit reichend und unterscheiden sich zwischen den Ausländergenerationen. Im
Folgenden werden deshalb die spezifischen Belastungssituationen der jeweiligen
Ausländergenerationen näher betrachtet.
2.7.1 Belastungssituationen der ersten Ausländergeneration
Die erste Ausländergeneration kann durch vielfältige Belastungssituationen gekennzeichnet werden. Gravierend ist zunächst der Umstand, dass mit dem Wohnortwechsel ein verfestigtes Beziehungsgefüge aufgegeben wird. Migration führt
dazu, dass eine Trennung von der gewohnten Umgebung, der Familie, dem Bekannten- und Freundeskreis und der bedeutsamen Bindung zu einer sozialen
Gruppe stattfindet. Die neue Umgebung basiert weiter meist auf einem Normenund Wertesystem, das sich von dem einheimischen unterscheidet. Die Folge ist
das Auftreten ambivalenter Gefühle. Selbstzweifel, Einsamkeit und Angst vor der
Zukunft begleiten die erste Phase der Migration. Diesen Gefühlen steht jedoch die
Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegenüber, die Mut und neue Kräfte mobilisiert.170
168 Vgl. ebenda, S. 308.
169 Vgl. Salman, Ramazan (1999), Stand und Perspektiven interkultureller Suchthilfe, in: Salman, Ramazan (Hg.) (1999), Handbuch interkulturelle Suchthilfe: Modelle, Konzepte und
Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Gießen, S. 11.
170 Vgl. Tuna, Soner (1999), Entwicklungskrisen und migrationsbedingte Belastungen als
Suchtgefährdungspotentiale jugendlicher Migranten, in: Salman, Ramazan (Hg.) (1999),
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References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.