83
3. Zu den sonstigen Auswirkungen des Zurückweisungsverfahrens
Über die beschriebenen Folgewirkungen hinaus dürfen die sonstigen Auswirkungen,
die die Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses nach sich gezogen
hat, nicht außer Acht gelassen werden, wenn es darum geht, die Zweckmäßigkeit des
§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO zu beurteilen.
a) Zur Zunahme der Berufungsrücknahmen
Aus der Richterschaft ist zu vernehmen, dass die Erteilung des Hinweises nach § 522
Abs. 2 Satz 2 ZPO in nicht wenigen Fällen zu einer Berufungsrücknahme führt. Träfe
dies zu, würde hierdurch eine Annahme des Gesetzgebers Bestätigung ? nden. Der Gesetzgeber war seinerzeit davon ausgegangen, dass die Hinweisp? icht der rechtsmittelführenden Partei „vermehrt“ Gelegenheit geben wird, eine kostengünstige Berufungsrücknahme in Erwägung zu ziehen230.
Ob die Erteilung eines Hinweises nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO tatsächlich zu einer
vermehrten Berufungsrücknahme führt, kann nicht mit letzter Sicherheit festgestellt
werden. Aus den Geschäftsstatistiken der Berufungsgerichte lässt sich eine solche Folgewirkung jedenfalls nicht ablesen, da dort nicht ausgewiesen ist, in wie vielen Fällen
der Berufungsrücknahme ein Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO vorausgegangen
ist. Auffällig ist jedoch, dass seit dem Inkrafttreten der Zivilprozessreform im Jahre
2002 sowohl vor den Landgerichten als auch vor den Oberlandesgerichten nicht nur
der Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO, sondern auch der Anteil der
Berufungsrücknahmen zugenommen hat. Dies belegen die nachstehenden, auf dem
Datenmaterial des Statistischen Bundesamtes beruhenden Gra? ken:
230 BT-Drs. 14/4722, S. 159.
Art der Erledigung
- Landgericht -
52,2 51,6 50,3 46,0 39,3 34,5 32,8
25,5 25,8 26,9 29,0
30,0 31,8 31,6
7,4 10,7 12,1
2,4
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
´99 ´00 ´01 ´02 ´03 ´04 ´05
Sonstige Erledigungsart
§ 522 Abs. 2 ZPO
Rücknahme
Urteil
84
Die vorstehenden Schaubilder verdeutlichen, dass der Anteil der durch Urteil entschiedenen Berufungsverfahren seit dem Inkrafttreten der Zivilprozessreform stark abgenommen hat bei gleichzeitig steigendem Anteil der durch Beschluss oder Rücknahme
erledigten Verfahren. Der parallel verlaufende Anstieg der durch Rücknahme und Beschluss erledigten Verfahren könnte auf einen Zusammenhang zwischen dem Hinweis
nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO und der Anzahl der Berufungsrücknahmen hindeuten.
Für das Bestehen eines derartigen Zusammenhangs spricht auch eine nähere Betrachtung der Geschäftsstatistiken einzelner Berufungsgerichte. Bei der Einzelbetrachtung
fällt nicht nur auf, dass ein weitgehender Gleichlauf zwischen der Entwicklung des
prozentualen Anteils der Rücknahmen und der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 Satz 2
ZPO an den insgesamt erledigten Verfahren besteht, sondern auch, dass jeweils im
Jahr 2003 und damit ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Zivilprozessreform ein überproportionaler Anstieg bei den Beschlüssen und Rücknahmen festzustellen ist. Besonders deutlich zeigt dies ein Blick auf die Geschäftsstatistiken der Oberlandesgerichte
Zweibrücken und Oldenburg sowie der Landgerichte des OLG-Bezirks Bamberg und
Koblenz, bei denen der Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO von unter 10
Prozent im Jahr 2002 sprunghaft auf über 20 Prozent im Jahr 2003 gestiegen ist. Die
beispielhaft angeführten Berufungsgerichte haben in den vergangenen Jahren von allen Berufungsgerichten am meisten Gebrauch von der Möglichkeit der Beschlusszurückweisung gemacht. Sie haben damit vermutlich auch die meisten Hinweise nach
§ 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO erteilt. Die Geschäftsstatistiken dieser Gerichte sind somit
besonders geeignet, einen möglichen Zusammenhang zwischen der Häu? gkeit der
Hinweiserteilung nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO und der Anzahl der Berufungsrücknahmen sichtbar werden zu lassen. Bei näherer Betrachtung der Geschäftsstatistiken
ergibt sich folgendes Bild:
Art der Erledigung
- Oberlandesgericht -
41,8 42,2 41,5 39,5 33,7 30,3 28,5
28,7 29 29,6 29,7
31,1 32,3 32,1
8,6 11 12,12,4
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
´99 ´00 ´01 ´02 ´03 ´04 ´05
Sonstige Erledigungsart
§ 522 Abs. 2 ZPO
Rücknahme
Urteil
85
Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO u. der Rücknahmen
an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren
3,6
25,725,523,3
31,731,332,0
28,2
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
´02 ´03 ´04 ´05
OLG Zweibrücken
Anteilswerte
in Prozent
Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO Rücknahme
Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO u. der Rücknahmen
an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren
8,8
20,6 22,9 22,5
30,3
39,2 40,9 38,3
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
´02 ´03 ´04 ´05
OLG Oldenburg
Anteilswerte
in Prozent
Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO Rücknahme
86
Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO u. der Rücknahmen
an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren
21,521,921,6
7,4 17,5
19,9
16,1
4,8
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
´02 ´03 ´04 ´05
Landgerichte des OLG-Bezirks Bamberg
Anteilswerte
in Prozent
Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO Rücknahme
Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO u. der Rücknahmen
an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren
4,8
16,1
19,9 17,5
25,5
29,7 31,4
34,1
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
´02 ´03 ´04 ´05
Landgerichte des OLG-Bezirks Koblenz
Anteilswerte
in Prozent
Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO Rücknahme
87
Angesichts des nahezu parallelen Kurvenverlaufs spricht Erhebliches dafür, dass der
Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu einer vermehrten Berufungsrücknahme
führt231 und damit zu einer beschleunigten Erledigung der Berufungsverfahren beiträgt. Zu einer weiteren Verfahrensbeschleunigung kommt es, da das Berufungsgericht
im Falle einer Berufungsrücknahme weder einen Termin zur mündlichen Verhandlung
bestimmen, noch schriftliche Entscheidungsgründe abfassen müssen.
b) Zunahme außerordentlicher Rechtsbehelfsverfahren?
Ungeachtet der festzustellenden Entlastung der Berufungsgerichte darf bei einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit der Beschlusszurückweisung nicht außer Acht bleiben,
ob die Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses zu einer Zunahme
an außerordentlichen Rechtbehelfsverfahren und damit zu Mehrbelastungen an anderer Stelle geführt hat. Zu überprüfen ist daher, ob seit dem Jahr 2002 die Anzahl der
auf § 321a ZPO gestützten Gehörsrügen und der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten
Verfassungsbeschwerden zugenommen hat.
Die Anzahl der auf § 321a ZPO gestützten Gehörsrügen wird in den Justizgeschäftsstatistiken nicht gesondert erfasst. Die einzige Möglichkeit, eine etwaige Zunahme der
außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren festzustellen, besteht deshalb darin, zu
überprüfen, ob die Zahl der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden seit dem Inkrafttreten der ZPO-Reform signi? kant zugenommen hat. Datenmaterial, das eine derartige Überprüfung zuließe, liegt indes in veröffentlichter Form nicht
vor. Auch eine Anfrage bei dem Pressereferat des Bundesverfassungsgerichts konnte
keinen Aufschluss geben. Die Anfrage ergab zwar, dass beim Bundesverfassungsgericht Statistiken über die auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden
geführt werden. Die Statistiken sind allerdings nur bedingt aussagekräftig, da sie nicht
zwischen einzelnen Gerichtszweigen differenzieren. Zwingende Rückschlüsse über
die Auswirkungen der Zivilprozessreform lassen die Statistiken des Bundesverfassungsgerichts folglich nicht zu. Nichts desto trotz ist ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Zahl der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden und der Zahl der durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesenen Berufungen jedenfalls nicht festzustellen. Dies verdeutlichen die nachfolgenden
Schaubilder:
231 So auch Vossler, MDR 2008, 722.
88
Anzahl
der durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO erledigten Verfahren
und der Neuzugänge der auf Art. 103 Abs. 1 GG
gestützten Verfassungsbeschwerden
230
402
324
394
428
449
483
349
333 398
3.498
10.760
14.135
14.928
0
2.000
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
14.000
16.000
1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
0
100
200
300
400
500
600
Neuzugänge der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden
In der Berufungsinstanz insg. durch Beschluss erledigte Verfahren
#BEZUG!
89
Eine auf die Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses zurückzuführende Zunahme der Verfassungsbeschwerdeverfahren lassen die vorstehenden
Schaubilder nicht erkennen. Würde ein Zusammenhang zwischen der Zahl der im Beschlusswege erledigten Berufungsverfahren und der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten
Verfassungsbeschwerden bestehen, hätte die Anzahl der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden nicht nur im Jahr 2003, sondern auch im Jahr 2004
sprunghaft ansteigen müssen. Deutlichstes Anzeichen dafür, dass die Zahl der außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren seit der Einführung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO
nicht zugenommen hat, ist jedoch der Umstand, dass die Anzahl der auf Art. 103 Abs.
1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden im Jahr 2005 den niedrigsten Stand seit
zehn Jahren erreicht hat, obwohl die Anzahl der durch Beschluss nach § 522 Abs. 2
ZPO erledigten Berufungsverfahren in diesem Jahr bundesweit erstmals auf knapp
15.000 gestiegen ist.
Anzahl
der durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO erledigten Verfahren
und der Neuzugänge der auf Art. 103 Abs. 1 GG
gestützten Verfassungsbeschwerden
230
402
324
394
428
449
483
349
333 398
3.498
10.760
14.135
14.928
0
2.000
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
14.000
16.000
1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
0
100
200
300
400
500
600
Neuzugänge der auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden
In der Berufungsinstanz insg. durch Beschluss erledigte Verfahren
#BEZUG!
90
VI. Fazit und Empfehlung für den Gesetzgeber
Die Beschlusszurückweisung ist von Verfassungs wegen auf offensichtlich unbegründete Berufungen zu beschränken. Eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss
dürfte daher eigentlich nur in wenigen Fällen in Betracht kommen. In der Praxis ist
jedoch festzustellen, dass eine Vielzahl von Berufungsgerichten in erheblichem Umfange von der Möglichkeit der Beschlusszurückweisung Gebrauch macht. Erklären
lässt sich der hohe Anteil der Beschlusszurückweisungen mit den Ef? zienzgewinnen,
die auf Seiten des Berufungsgerichts eintreten, wenn es nicht im Urteils-, sondern im
Beschlussverfahren über unbegründete Berufungen entscheidet. Wie die Auswertung
der Justizgeschäftsstatistiken der Jahre 2002 bis 2005 ergeben hat, verringert sich die
durchschnittliche Verfahrensdauer des Berufungsverfahrens im Vergleich zum Urteilsverfahren um mehrere Wochen, und dies selbst dann wenn über 20 Prozent der Berufungsverfahren im Beschlusswege erledigt und somit zwangsläu? g immer umfangreichere Berufungen für das Beschlussverfahren ausgewählt werden.
Durch die Einbeziehung umfangreicherer Verfahren verschwimmen die Unterschiede des Beschlussverfahrens zum Urteilsverfahren, so dass ein sachlicher Grund für die
unterschiedliche Anfechtbarkeit von Zurückweisungsbeschluss und Berufungsurteil
und damit eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die festzustellende Ungleichbehandlung nicht mehr zu erkennen ist. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ebenso bedenklich ist der Umstand, dass die einzelnen Berufungsgerichte auch vier Jahre nach
dem Inkrafttreten der Zivilprozessreform in sehr unterschiedlichem Umfang von der
Möglichkeit der Beschlusszurückweisung Gebrauch machen. Von einem bundesweit
gleichmäßigen Zugang zur Revisionsinstanz kann keine Rede mehr sein. Während in
einigen OLG-Bezirken nach wie vor über 95 Prozent der zweitinstanzlichen Entscheidungen anfechtbar sind, steht der unterlegenen Partei in anderen OLG-Bezirken in
weniger als 80 Prozent aller Fälle die Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde
oder einer Revision offen. Noch erheblicher fallen die Unterschiede zwischen den einzelnen Kammern bzw. Senaten eines OLG-Bezirks aus. Diese Feststellung führt zu der
in verfassungsrechtlicher Hinsicht mehr als bedenklichen Erkenntnis, dass nicht einmal innerhalb eines Berufungsgerichts ein annähernd gleichmäßiger Zugang zur Revisionsinstanz gewährleistet ist.
Die verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Zweifel an der Regelung des
§ 522 Abs. 3 ZPO werden noch verstärkt, wenn man versucht, die Ursachen für die
extremen Unterschiede zu ergründen. Zahlreiche Äußerungen in der Literatur lassen
vermuten, dass die Unterscheide darauf zurückzuführen sind, dass sich einige Berufungsgerichte bei der Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO nicht nur von rechtlichen,
sondern auch von arbeitsökonomischen Erwägungen leiten lassen. So stellt Greger in
seinem Beitrag mit dem Titel „Die ZPO-Reform – 1000 Tage danach“ fest, dass sich
die extremen Unterschiede bei der Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO wohl nicht damit
erklären lassen,
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.