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III. Zur Kritik an der Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO
Das Reformvorhaben der Bundesregierung traf auf ein geteiltes Echo. In weiten Teilen
befürwortet wurde die beabsichtigte Reformierung des Zivilprozessverfahrens vom
Deutschen Richterbund208. Heftige Kritik übten insbesondere der Bundesrat209 und
der Deutsche Anwaltsverein210 an dem Gesetzesvorhaben.
1. Zur Stellungnahme des Bundesrates
Der Bundesrat beanstandete, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung erhebliche
Mehrkosten verursache, die durch die vorgesehenen Entlastungen wie z.B. das Zurückweisungsverfahren in der Berufungsinstanz oder den verstärkten Einzelrichtereinsatz in der ersten Instanz nicht kompensiert würden. Heftig kritisiert wurde insbesondere die Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO211. Wörtlich führte der Bundesrat
aus:
„Eine starre Regelung, die das Berufungsgericht zwingt, jede Berufung unverzüglich
nach ihrem Eingang in voller Spruchkörperbesetzung durchzuprüfen und bei einstimmiger Verneinung der Erfolgsaussichten das Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlung
zurückzuweisen, ist abzulehnen.
Das Ziel des Entwurfs, aussichtslose Berufungen im Interesse des Berufungsgegners
frühzeitig vorab zu erledigen, würde bei einer un? exiblen zwingenden Regelung ohne
hinreichende Rechtfertigung mit einer verzögerten Erledigung begründeter Berufungen
zulasten des Berufungsklägers erkauft. Nach Schätzungen seitens der Länder in der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die auch vom Bundesministerium der Justiz als realistisch
angesehen wurden, würden im Zurückweisungsverfahren allenfalls 10% bis 15% aller
Berufungen erledigt werden. Bei den übrigen Fällen würde die gesetzlich erzwungene
eingehende Sofortprüfung vielfach zu einem erheblichen und letztlich über? üssigen
Zusatzaufwand führen. Die Entscheidung, ob die Berufung durch Beschluss nach § 522
Abs. 2 ZPO-E zurückzuweisen ist, würde auf der Grundlage einer eingehenden – bei
den Senaten der Oberlandesgerichte mit einem schriftlichen Votum vorbereiteten – Beratung ergehen. Je nach Sachlage wäre nach dem obligatorischen Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung und einer Stellungnahme des Berufungsführers hierzu noch
eine weitere Beratung erforderlich. In den 85% bis 90% der Berufungen, in denen es
nach der Sonderprüfung zu einer Beschlussfassung nicht kommt, muss, soweit sich das
Verfahren nicht noch vorher durch Rechtsmittelrücknahme oder auf sonstige Weise er-
208 Siehe die Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses
(November 2000); veröffentlich unter www.drb.de/pages/html/ stellung/st-zivilprozessreform.
html.
209 Die Stellungnahme des Bundesrates ist der BT-Drs. 14/4722 als Anlage 2 beigefügt und ? ndet
sich auf den Seiten 146 ff.
210 Stellungnahme des DAV zu dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (ZPO-RG) aus dem März 2000.
211 BT-Drs. 14/4722, S. 150 f.
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ledigt, ein Verhandlungstermin bestimmt werden, der bei der bestehenden Geschäftsbelastung der Oberlandesgerichte regelmäßig erst in größerem Zeitabstand folgen kann.
Zu seiner Vorbereitung ist dann erneut eine Einarbeitung des Gerichts erforderlich, regelmäßig auf der Grundlage einer inzwischen erheblich dicker gewordenen Akte. Nicht
selten hat sich bis dahin auch die Besetzung der Richterbank durch Fluktuation im Dezernat von Erprobungsrichtern (3. Staatsexamen) geändert. Der Beratungs- und Zeitaufwand für die zwingend vorgeschriebene Vorwegprüfung ist in all diesen Verfahren weitgehend umsonst geleistet. Die dadurch verbrauchten Arbeits- und Zeitkapazitäten werden dem jeweils davon betroffenen Verfahren entzogen. Die Erledigung erfolgreicher
Berufungen wird auf diese Weise verzögert. Der Gläubiger, der wegen eines unbegründeten gegnerischen Rechtsmittels auf eine rechtskräftige Titulierung seiner ihm in erster
Instanz zugesprochenen Forderung warten muss, sich das Geld aber immerhin schon im
Rahmen der vorläu? gen Vollstreckbarkeit beschaffen oder doch zumindest sichern
kann, wird bevorzugt zum Nachteil des Gläubigers, dem seine begründete Forderung
erstmals in der Berufung zugesprochen wird. Eine Rechtfertigung dafür besteht nicht.
Für die Berufungsgerichte wäre bei Verwirklichung des Vorschlags per Saldo eine
Mehrbelastung zu erwarten. Die in den Zurückweisungsfällen durch einen Wegfall der
mündlichen Verhandlung entstehende Entlastung wäre gering. Gerade in aussichtslosen
Sachen kann oft noch in der mündlichen Verhandlung eine Berufungsrücknahme erreicht und so eine zu begründende Entscheidung erspart werden. Eine Entlastung durch
Wegfall der mündlichen Verhandlung könnte im Übrigen in allenfalls 10% bis 15% aller
Berufungssachen eintreten. Aber selbst in diesen relativ wenigen Fällen dürfte es häu? g
zu Mehrbelastungen des Gerichts kommen. Aufgrund der obligatorischen Hinweisp? icht des Gerichts vor einer beabsichtigten Zurückweisung der Berufung wird der Berufungskläger in vielen Fällen auf den Hinweis des Gerichts mit einem weiteren Schriftsatz reagieren. Das Berufungsgericht muss über diesen Schriftsatz und eine gegebenenfalls vom Berufungsbeklagten hierzu gefertigte Replik erneut beraten und – sofern eine
Zurückweisung im schriftlichen Verfahren dann überhaupt noch in Betracht kommt –
die ergänzenden Ausführungen des Berufungsklägers in den Gründen des Zurückweisungsbeschlusses berücksichtigen. Der hierdurch entstehende Mehraufwand wird durch
den Wegfall einer mündlichen Verhandlung nicht kompensiert werden können. Bei den
erheblich zahlreicheren Berufungen, in denen es letztlich nicht zu einer Beschlusszurückweisung kommt, käme in Folge des doppelten Beratungsaufwands auf das Berufungsgericht eine erhebliche zusätzliche Arbeitsbelastung zu.
Um evident aussichtslose Berufungen schnell zu erledigen, bedarf es einer schwerfälligen Vorwegprüfung nicht. Soweit das Berufungsgericht – ohne ein zwingendes allgemeines Vorprüfungsverfahren – eine Berufung im frühen Stadium als offensichtlich
aussichtslos erkennt, hat es die vielfach mit Erfolg angewandte Möglichkeit, die Zurücknahme des Rechtsmittels anzuregen. Im Übrigen können offensichtlich unbegründete Berufungen, deren Erledigung regelmäßig weniger Aufwand erfordert, vorgezogen
terminiert und so auf Grund mündlicher Verhandlung mit abgekürztem Urteil alsbald
erledigt werden. Ein starrer gesetzlicher Zwang, in Fällen einstimmig bejahter Aussichtslosigkeit ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, würde die Kollegialspruchkörper unangemessen reglementieren. Mit dem generellen Ausschluss der Möglichkeit,
in der mündlichen Verhandlung noch Missverständnisse aufzuklären und eine gütliche
Einigung zu erreichen, würde der Rechtsschutz in der Berufungsinstanz unvertretbar
geschwächt. Es entspricht richterlicher Erfahrung, dass von solchen Verhandlungen eine
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hohe Befriedungswirkung ausgehen kann. Durch das gesetzliche Verbot an das Berufungsgericht, den Berufungsführer in der mündlichen Verhandlung zu hören, würde die
Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidungen deutlich beeinträchtigt.“
(Hervorhebung durch den Autor)
Dieser Kritik des Bundesrates an der Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO trat die
Bundesregierung entgegen212. Sie machte in ihrer Gegenäußerung geltend, dass sich
durch das Reformgesetz ein erheblicher Anteil von Rechtsmitteln ergebe, bei denen
der Zwang zur mündlichen Verhandlung richterliche Arbeitskraft unnötig binde und
verfahrensverzögernd wirke, da der Tatsachenstoff infolge des § 531 ZPO-E künftig
in erster Instanz vorgebracht werden müsse, so dass es insoweit einer Korrektur durch
das Berufungsgericht nicht mehr bedürfe. Die Bundesregierung wies zudem die Bedenken des Bundesrates an der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des Zurückweisungsverfahrens zurück. Wörtlich führte sie hierzu aus:
„Der Einwand, die zwingende Regelung sei un? exibel und würde ohne hinreichende
Rechtfertigung mit einer verzögerten Erledigung begründeter Berufungen zulasten des
Berufungsklägers erkauft, greift nicht durch. Er verkennt, dass auch in den Fällen, in
denen es letztlich zu einem Zurückweisungsbeschluss nicht kommt, von einem über? üssigen Zusatzaufwand nicht die Rede sein kann. Denn schon nach derzeitiger Rechtslage
– davon geht auch die Begründung des oben zitierten Bundesratsentwurfs aus – kann
eine eingehende Berufung nicht bis zur Vorbereitung des Termins zur mündlichen Verhandlung unbearbeitet liegen bleiben. Vielmehr muss ab dem Eingang des Rechtsmittels
verfahrensbegleitend die Akte bearbeitet werden, um über die Zulässigkeit des Rechtsmittels be? nden, Hinweise an den Rechtsmittelführer erteilen und den Termin zur
mündlichen Verhandlung sachgerecht planen zu können. Im Übrigen ist dieser bei gesetzeskonformer Handhabung schon heute zu erbringende Aufwand – insbesondere
wenn schriftlich votiert wird – nicht vergebens, weil er in späteren Verfahrensabschnitten wieder nutzbar gemacht werden kann.
Nicht geteilt werden kann auch die Einschätzung des Bundesrats, das Zurückweisungsverfahren werde nur zu einer geringen Entlastung führen. Wird das Berufungsverfahren
nach der ersten Bearbeitung der Akte oder auch erst auf die nach dem Hinweis ergangene ergänzende Stellungnahme des Berufungsführers durch Zurückweisungsbeschluss
erledigt, entfällt die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung, der Aufwand für die
Durchführung der mündlichen Verhandlung und der Aufwand für das Absetzen des Urteils. Demgegenüber erscheint der Mehraufwand durch die aus Gründen der Gewährung
des rechtlichen Gehörs gebotene Hinweisp? icht und eine eventuell ergänzende Beratung eher gering. Hinzu kommt, dass dem Anspruch des Rechtsmittelgegners auf eine
frühestmögliche Entscheidung und damit dem Beschleunigungsgebot durch das Zurückweisungsverfahren in herausragender Weise Rechnung getragen wird.
Soweit vom Bundesrat darauf verwiesen wird, schnelle Erledigungsmöglichkeiten für
aussichtslose Berufungen bestünden schon derzeit, ist darauf hinzuweisen, dass die
Möglichkeit des Berufungsgerichts, eine Rücknahme des Rechtsmittels anzuregen,
durch die Entwurfsregelungen nicht berührt wird. Vielmehr wird die Hinweisp? icht
212 BT-Drs. 14/4722, S. 154 ff.
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vermehrt der rechtsmittelführenden Partei Gelegenheit geben, eine kostengünstige Berufungsrücknahme in Erwägung zu ziehen. Die Möglichkeit vorgezogener Terminierung beseitigt den über? üssigen Terminsaufwand nicht und würde die vom Bundesrat
gerade beanstandete Konsequenz haben, dass in Fällen, in denen die Berufung Aussicht
auf Erfolg hat, der Rechtsmittelführer eine Entscheidung erst später als notwendig erhalten würde. Die Aufklärung von Missverständnissen und unklaren Berufungsbegründungen wird mit der Hinweisp? icht sachgerecht bewirkt.“
(Hervorhebung durch den Autor)
2. Zur Stellungnahme des DAV vom 11. März 2000
Eine umfangreiche Stellungnahme zur Reform des Zivilprozesses hatte auch der Deutsche Anwaltverein abgegeben213. Die Stellungnahme bezog sich auf den Referentenentwurf, der im Gegensatz zum späteren Regierungsentwurf noch ein Annahmeverfahren vorsah. Auch wenn die Stellungnahme somit keinerlei Äußerungen des Deutschen Anwaltvereins zur Zurückweisung der Berufung durch unanfechtbaren Beschluss
enthält, ist die grundsätzliche Kritik des Anwaltvereins an dem Reformvorhaben zumindest teilweise aufzugreifen. Nicht unerwähnt bleiben darf insbesondere, dass der
Anwaltverein im Gegensatz zum Gesetzgeber der Ansicht gewesen ist, dass in der Zivilgerichtsbarkeit keine unangemessene Verfahrensdauer zu beklagen ist214. Auch die
in dem Referentenentwurf konstatierte „Fehlsteuerung“ in der Berufungsinstanz konnte der Anwaltverein nicht ausmachen. Soweit der Referentenentwurf die Fehlsteuerung damit zu begründen versuche, „dass das jetzige Verfahren zu Lasten des Gegners
‚das Rechtsmittel der Berufung als Justizkredit nutzbar’ mache“, fehle diesem gedanklichen Ansatzpunkt „jede rechtstatsächlich auch nur einigermaßen abgesicherte
Grundlage“215. Weiter heißt es in der Stellungnahme:
„Zeit kann die unterlegene Partei bei vorläu? g vollstreckbaren Entscheidungen – dies
ist die große Mehrzahl – nicht gewinnen. Zwar heißt es in dem Bericht (S. 8), Möglichkeiten wie die ‚Anordnung der vorläu? gen Vollstreckbarkeit reichen allein nicht aus’,
der Flucht in die Berufung ‚mit Erfolg zu begegnen’. Der Referentenentwurf präzisiert
diese Unterstellung mit der Behauptung, ‚kleine und mittelständische Unternehmen, die
die notwendigen Sicherheiten für eine vorläu? ge Vollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil nicht leisten’ könnten, würden ‚durch diese Schwäche des Zivilprozessrechts in ihrer Existenz gefährdet’ (RefE S. 63). Diese Aussage ist bei aller Vorsicht vor
dem Wort ‚offensichtlich’ nicht haltbar. Sie berücksichtigt nicht: Selbst die ? nanzschwache Partei kann die Vollstreckung ohne Sicherheitsleistung als Sicherungsvollstreckung
(§ 720a ZPO) in die Wege leiten. Die unterlegene Partei kann nach Abschluss der I. Instanz nur durch die Zahlung oder Sicherheitsleistung die Vollstreckung aufhalten. Das
Rechtsmittel hält zugunsten der unterlegenen Partei nichts auf.“
213 Stellungnahme des DAV zu dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (ZPO-RG) aus dem März 2000; veröffentlicht unter http://www.anwaltverein.de/03/05/2000/
Justiz/Inhalt.html.
214 S. 15 ff. der Stellungnahme.
215 S. 18 f. der Stellungnahme.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.