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II. Zu den vom Gesetzgeber mit der Neuregelung verfolgten Absichten
Die Bundesregierung verfolgte mit dem Gesetz zur Reform des Zivilprozesses das
Ziel, den Zivilprozess „bürgernäher, ef? zienter und transparenter“ zu gestalten. Ein
Schwerpunkt der Reform war die Einführung einer beschleunigten Erledigungsmöglichkeit für substanzlose Berufungen204. Die Bundesregierung schlug daher – der Anregung Rimmelspachers folgend – die Einführung eines Zurückweisungsbeschlusses
vor, durch den Berufungen ohne Erfolgsaussicht und grundsätzliche Bedeutung im
Beschlusswege durch einstimmige Entscheidung des Berufungsgerichts ohne mündliche Verhandlung abschließend erledigt werden können. Zum Hintergrund der Neuregelung führte die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung aus:
„Derzeit sind weit über 50 % aller Berufungen erfolglos. In vielen dieser Fälle ergibt
sich infolge der Zurückweisung durch Beschluss ein erheblicher verfahrensbeschleunigender Effekt mit schnellerer Rechtskraft und Vollstreckbarkeit, ohne dass damit eine
Verkürzung von Rechtsschutzmöglichkeiten zu besorgen ist. Auf Verfahrensverzögerung angelegten Rechtsmitteln wird so wirksam begegnet.“205
(Hervorhebung durch den Autor)
Die Bundesregierung versprach sich von der Einführung des Zurückweisungsbeschlusses erhebliche Ef? zienzgewinne für die Bürger und die Gerichte206. Auf Seiten
des Bürgers sollte der unverzüglich zu erlassende Zurückweisungsbeschluss dazu führen, dass die in erster Instanz erfolgreiche Partei deutlich schneller als bislang die Gewissheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens erhält. Zugleich sollten für in der ersten Instanz unterlegene Beklagte die Anreize vermindert werden, durch die Einlegung
der Berufung Zeit zu gewinnen und die Vollstreckung des titulierten Anspruchs hinauszuzögern. Zu den Ef? zienzgewinnen der Gerichte führte die Bundesregierung in
der Gesetzesbegründung wörtlich aus:
„Das Berufungsgericht bekommt mit dem Zurückweisungsbeschluss ein Instrument an
die Hand, das es ihm erlaubt, substanzlose Berufungen schnell, ohne den in vielen Fällen unnötigen Zeitaufwand einer mündlichen Verhandlung und ohne die derzeit erforderliche doppelte Aktenbearbeitung bei Eingang der Sache und bei der Terminvorbereitung zu erledigen.“
Des weiteren erwartete die Bundesregierung, dass sich der Zahl der aus sachfremden
Erwägungen, d.h. aus Gründen der Vollstreckungsverschleppung eingelegten Rechtsmittel verringern werde. Einen weiteren Vorteil der von ihr vorgeschlagenen Einführung des Zurückweisungsbeschlusses erblickte die Bundesregierung in der Kostenersparnis für den Berufungsführer, die dadurch eintrete, dass eine mündliche Verhandlung und die damit anfallenden Verhandlungsgebühren vermieden würden207.
204 BT-Drs. 14/4722, S. 1.
205 BT-Drs. 14/4722, S. 62.
206 BT-Drs. 14/4722, S. 64.
207 BT-Drs. 14/4722, S. 64.
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III. Zur Kritik an der Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO
Das Reformvorhaben der Bundesregierung traf auf ein geteiltes Echo. In weiten Teilen
befürwortet wurde die beabsichtigte Reformierung des Zivilprozessverfahrens vom
Deutschen Richterbund208. Heftige Kritik übten insbesondere der Bundesrat209 und
der Deutsche Anwaltsverein210 an dem Gesetzesvorhaben.
1. Zur Stellungnahme des Bundesrates
Der Bundesrat beanstandete, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung erhebliche
Mehrkosten verursache, die durch die vorgesehenen Entlastungen wie z.B. das Zurückweisungsverfahren in der Berufungsinstanz oder den verstärkten Einzelrichtereinsatz in der ersten Instanz nicht kompensiert würden. Heftig kritisiert wurde insbesondere die Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO211. Wörtlich führte der Bundesrat
aus:
„Eine starre Regelung, die das Berufungsgericht zwingt, jede Berufung unverzüglich
nach ihrem Eingang in voller Spruchkörperbesetzung durchzuprüfen und bei einstimmiger Verneinung der Erfolgsaussichten das Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlung
zurückzuweisen, ist abzulehnen.
Das Ziel des Entwurfs, aussichtslose Berufungen im Interesse des Berufungsgegners
frühzeitig vorab zu erledigen, würde bei einer un? exiblen zwingenden Regelung ohne
hinreichende Rechtfertigung mit einer verzögerten Erledigung begründeter Berufungen
zulasten des Berufungsklägers erkauft. Nach Schätzungen seitens der Länder in der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die auch vom Bundesministerium der Justiz als realistisch
angesehen wurden, würden im Zurückweisungsverfahren allenfalls 10% bis 15% aller
Berufungen erledigt werden. Bei den übrigen Fällen würde die gesetzlich erzwungene
eingehende Sofortprüfung vielfach zu einem erheblichen und letztlich über? üssigen
Zusatzaufwand führen. Die Entscheidung, ob die Berufung durch Beschluss nach § 522
Abs. 2 ZPO-E zurückzuweisen ist, würde auf der Grundlage einer eingehenden – bei
den Senaten der Oberlandesgerichte mit einem schriftlichen Votum vorbereiteten – Beratung ergehen. Je nach Sachlage wäre nach dem obligatorischen Hinweis auf die beabsichtigte Zurückweisung und einer Stellungnahme des Berufungsführers hierzu noch
eine weitere Beratung erforderlich. In den 85% bis 90% der Berufungen, in denen es
nach der Sonderprüfung zu einer Beschlussfassung nicht kommt, muss, soweit sich das
Verfahren nicht noch vorher durch Rechtsmittelrücknahme oder auf sonstige Weise er-
208 Siehe die Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses
(November 2000); veröffentlich unter www.drb.de/pages/html/ stellung/st-zivilprozessreform.
html.
209 Die Stellungnahme des Bundesrates ist der BT-Drs. 14/4722 als Anlage 2 beigefügt und ? ndet
sich auf den Seiten 146 ff.
210 Stellungnahme des DAV zu dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (ZPO-RG) aus dem März 2000.
211 BT-Drs. 14/4722, S. 150 f.
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References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.