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zeugt. Losgelöst hiervon kann eine gerichtliche Entscheidung, wie Lücke zutreffend
festgehalten hat, „dadurch befriedend wirken, dass sie sich schlagend mit dem Vorbringen des Betroffenen auseinandersetzt“ oder „die Notwendigkeit der Entscheidung
zu erklären versteht“190. Lücke spricht in diesem Zusammenhang von einer Befriedungsfunktion des gerichtlichen Begründungszwanges. Die Befriedungsfunktion sei
besonders hervorstechend, wenn es um die Begründung einer nicht mehr anfechtbaren
Entscheidung geht191.
Eine Anfechtung des Zurückweisungsbeschlusses nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit
ordentlichen Rechtsmitteln ist nach Absatz 3 der Vorschrift ausgeschlossen. Schon aus
diesem Grund sind besondere Anforderungen an die Begründung des Zurückweisungsbeschlusses zu stellen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Berufungskläger im Vergleich zu einer Entscheidung im Urteilsverfahren dadurch benachteiligt wird, dass er
seine Einwände gegen die ablehnende Haltung des Gerichts nicht in einer mündlichen
Verhandlung vortragen kann. Mit Blick auf die Erreichung einer möglichst hohen Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung erscheint es zweckmäßig, auf der Begründungsebene eine gewisse Kompensation dafür zu schaffen, dass in einem reinen Beschlussverfahren die akzeptanzfördernde Wirkung, die eine Erörterung in der mündlichen Verhandlung hat, nicht zum Tragen kommt. Nach hier vertretener Auffassung
sollte die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss daher genauso umfänglich begründet werden wie ein Berufungsurteil. Die Begründung des Zurückweisungsbeschlusses muss danach in der Zusammenschau mit dem vorangegangenen Hinweis
nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO ebenso wie das Berufungsurteil die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung zweifelsfrei erkennen lassen192 und die wesentlichen Erwägungen wiedergeben, die zur Bestätigung der angefochtenen Entscheidung geführt haben.
6. Zwischenergebnis
Das Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO gestaltet sich aufwändiger als vom Gesetzgeber
angenommen. Das Berufungsgericht darf die Begründung seiner Entscheidung entgegen der Auffassung des Gesetzgebers im Regelfall nicht auf einen bloßen Verweis auf
die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung beschränken. Es hat sich
vielmehr mit dem Vorbringen des Berufungsführers aus der Berufungsbegründung
und der Stellungnahme zu dem Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO auseinander zu setzen. Das Berufungsgericht hat den Parteien zudem ausreichende Stellungnahmefristen einzuräumen. Dem Berufungsführer ist in der Regel eine zweiwöchige Frist zu gewähren, um zu dem Hinweisbeschluss des Gerichts nach § 522 Abs.
2 Satz 2 ZPO Stellung nehmen zu können. Auch dem Berufungsbeklagten ist zur Vermeidung unnötiger Folgeverfahren die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen,
190 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 72.
191 Lücke, Begründungszwang und Verfassung, S. 73.
192 Siehe zu den für das Berufungsurteil geltenden Maßstäben BGH, Urt. v. 06.06.2003 – V ZR
392/02 –, NJW-RR 2003, 1290; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 541 Rdnr. 2.
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bevor das Berufungsgericht den Zurückweisungsbeschluss erlässt. Angesichts dieser
verfahrensrechtlichen Zwänge stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber sein Ziel, eine
vereinfachte Erledigungsmöglichkeit für substanzlose Berufungen zu schaffen, tatsächlich erreicht hat. Dies leitet über zu der Frage nach der Zweckmäßigkeit der Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO. Bevor diese Frage im Nachfolgenden behandelt
wird ist jedoch kurz auf die Rechtsfolgen des Vorliegens der formellen und materiellen
Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO einzugehen.
III. Zu den Rechtsfolgen des Vorliegens der formellen und materiellen
Voraussetzungen der Zurückweisung durch Beschluss
Liegen die formellen und materiellen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO vor, stellt
sich die Frage, ob das Berufungsgericht verp? ichtet ist, die Berufung durch Beschluss
zurückzuweisen, oder ob die Wahl der Verfahrensart im Ermessen des Gerichts steht.
Vereinzelt wurde die Auffassung vertreten, dass § 522 Abs. 2 ZPO den Berufungsgerichten einen Ermessensspielraum einräumt193. Die ganz herrschende Auffassung geht
demgegenüber davon aus, dass das Berufungsgericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss entscheiden muss194. Dieser Ansicht kann
nur zugestimmt werden. Die Gegenauffassung lässt sich mit Art. 101 Abs. 1 GG nicht
vereinbaren. Aus Art. 101 Abs. 1 GG folgt, dass jede Regelung, die sich auf die richterliche Zuständigkeit auswirkt, das Ziel in sich tragen muss, die Unvertauschbarkeit
des Richters zu gewährleisten195. Die Unvertauschbarkeit des Richters wäre im Falle
des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO jedoch nicht gewährleistet, wenn die Entscheidung über
die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss und damit die Rechtswegeröffnung
zum Revisionsgericht im Ermessen des Berufungsgerichts liegen würde. Ein derartiges
Handlungsermessen des Gerichts schließt Art. 101 GG gerade aus196.
193 OLG Koblenz, Beschl. v. 20.02.2003 – 10 U 883/02 –, NJW 2003, 2100, 2101; Bamberger, ZRP
2004, 137, 140. Wohl auch Ebel, ZRP 2001, 309, 310 und Busse, NJW 2001, 1545, 1546. Ebel
spricht davon, dass das Berufungsgericht die Berufung im Beschlusswege zurückweisen kann.
Busse hofft, dass die Berufungsgericht von der Möglichkeit der Verwerfung durch Beschluss
wenig Gebrauch machen.
194 BVerfG, Beschl. v. 05.08.2002 – 2 BvR 1108/02 –, NJW 2003, 281; BerlVerfGH, Beschl. v.
30.04.2004 – VerfGH 2/04 –, NJW-RR 2004, 1719; OLG Celle, Beschl. v. 06.06.2002 – 2 U 31/02
–, NJW 2002, 2800; OLG Rostock, Beschl. v. 11.03.2003 – 3 U 28/03 –, NJW 2003, 1676; OLG
Köln, Beschl. v. 11.06.2003 – 2 U 15/03 –, MDR 2003, 1435; KG Berlin, Beschl. v. 10.11.2003
– 22 U 216/03 –, MDR 2004, 61; Beschl. v. 16.12.2005 – 7 U 80/05 –, zit. n. juris; Beschl. v.
23.08.2007 – 12 W 59/07 –, MDR 2008, 42; OLG Frankfurt, Beschl. v. 19.05.2005 – 9 U 55/04
– zit. n. juris; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 522 Rdnr. 13; Gummler/Heßler, in: Zöller, § 522
Rdnr. 31; Gerken, in: Wieczorek/Schütze, § 522 Rdnr. 61; Ball, in: Musielak, § 522 Rdnr. 20;
Meyer-Seitz, in: Hannich/Meyer-Seitz, § 522 Rdnr. 1; Gehrlein, MDR 2003, 421, 429; Piekenbrock, JZ 2002, 540, 541; Stackmann, JuS 2005, 324, 326; Fölsch, NJW 2006, 3521, 3522.
195 Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 Rdnr. 25.
196 Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 101 Rdnr. 27.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.