50
d) Zwischenergebnis
Entgegen der Auffassung des Gesetzgebers reicht es nicht aus, wenn das Berufungsgericht in der Begründung seines Hinweises nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO lediglich
auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung verweist. Auch wenn
ein derartiger Hinweis den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 103 Abs. 1
GG genügt, verlangt der Sinn und Zweck des § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO eine umfänglichere Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Berufungsführers. Nur so erhält
der Berufungsführer die Chance, dem Gericht in seiner Stellungnahme Gesichtspunkte zu unterbreiten, die einer Zurückweisung durch Beschluss entgegenstehen. Ein ordnungsgemäß begründeter Hinweis setzt deshalb voraus, dass das Berufungsgericht
sich mit dem Vorbringen des Berufungsführers auseinandersetzt und in seinem Hinweis erkennen lässt, weshalb es die erstinstanzliche Entscheidung entgegen dem Vorbringen des Berufungsführers für richtig hält. Weitergehender Ausführungen des Gerichts, insbesondere im Hinblick auf die Voraussetzungen der § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr.
2 und 3 ZPO, bedarf es im Regelfall hingegen nicht. Wie das Kammergericht Berlin
zutreffend festgehalten hat, wird der Anspruch des Berufungsführers auf rechtliches
Gehör nicht dadurch verletzt, dass das Berufungsgericht lediglich feststellt, dass die
Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordern. Zur Begründung führte das Kammergericht in seinem Beschluss vom 16. Dezember 2005 aus:
„Eine weitergehende Begründung ist nur insoweit erforderlich, als der konkrete Einzelfall dazu Anlass bietet. Dass der Rechtsstreit keine Rechtsfrage von allgemeiner, über
den Einzelfall hinausgehender Bedeutung enthält und auch nicht von Rechtsfragen abhängt, die höchstrichterlich noch nicht entschieden worden sind, ergibt sich aus dieser
Feststellung. Wenn eine Partei der Ansicht ist, dass bestimmte entscheidungserhebliche
Rechtsfragen einer höchstrichterlichen Klärung bedürfen, dann mag sie dazu vortragen
[…]; es kann nicht notwendiger Bestandteil eines gerichtlichen Hinweises sein, aufzuzählen, welche Rechtsfragen im Einzelnen keine grundsätzliche Bedeutung haben. Sollte dies für eine oder mehrere Fragen, die in dem Rechtsstreit entscheidungserheblich
sind, zweifelhaft sein, hat der Senat Veranlassung dazu Ausführungen zu machen, andernfalls aber nicht.“153
3. Zur Stellungnahmefrist
Nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat das Berufungsgericht oder der Vorsitzende dem
Berufungsführer binnen einer nach p? ichtgemäßem richterlichen Ermessen zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Hierdurch erhält der Berufungsführer die Möglichkeit, Gesichtspunkte darzulegen, die nach seiner Auffassung
gegen die beschlussmäßige Zurückweisung sprechen.
153 KG Berlin, Beschl. v. 16.12.2005 – 7 U 80/05 –, zit. n. juris. Siehe auch Meyer-Seitz, in: Hannich/Meyer-Seitz, § 522 Rdnr. 29
51
a) Zur Bemessung der Stellungnahmefrist
Bei der Bemessung der Stellungnahmefrist sind nicht nur die Interessen des Berufungsklägers, sondern auch die widerstreitenden Interessen des Berufungsbeklagten
zu berücksichtigen. Während der Berufungskläger daran interessiert ist, dass ihm
eine möglichst lange Stellungnahmefrist eingeräumt wird, hat der Berufungsbeklagte ein Interesse an einem baldigen Abschluss des Verfahrens. Beide Interessen sind
verfassungsrechtlich geschützt und deshalb in einen möglichst schonenden Ausgleich
zu bringen. In verfassungsrechtlicher Hinsicht stehen sich dabei insbesondere das
Gebot effektiven Rechtsschutzes und das Beschleunigungsgebot gegenüber, das nicht
mit dem Gesichtspunkt der bloßen Prozessökonomie gleichgesetzt werden darf. Blo-
ße Aspekte der Prozessökonomie schließen es im Gegensatz zum Beschleunigungsgebot aus, die grundrechtlich verbürgte Gewährung rechtlichen Gehörs zu relativieren154.
Das Beschleunigungsgebot folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip fordert für das gerichtliche Verfahren einen wirkungsvollen Rechtsschutz des
einzelnen Rechtssuchenden und die Herstellung von Rechtssicherheit. Zur Herstellung
von Rechtssicherheit ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
erforderlich, „dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden.“155
Fallübergreifende Aussagen zur höchst zulässigen Verfahrensdauer lassen sich nicht
treffen. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage nach der zulässigen
Höchstdauer des Verfahrens sind vielmehr stets alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Schwierigkeit der Sachmaterie,
das den Parteien zuzurechnende Verhalten sowie die gerichtlich nicht zu beein? ussenden Tätigkeiten von Dritten, wie etwa Sachverständigen, einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist ferner die Gesamtdauer des Verfahrens. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene P? icht des Gerichts, sich nachhaltig um eine
Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen156.
Das Berufungsverfahren wie auch andere gerichtliche Verfahren lassen sich durch
die Anordnung kurzer Stellungnahmefristen beschleunigen. Der Verfahrensbeschleunigung sind jedoch durch das Gebot effektiven Rechtsschutz Grenzen gesetzt. Das
verfassungsrechtlich abgesicherte Gebot effektiven Rechtsschutz setzt eine ausreichende Stellungnahmemöglichkeit für den Berufungskläger voraus. Nach dem Gebot
effektiven Rechtsschutzes muss die dem Berufungskläger einzuräumende Frist zur
Stellungnahme objektiv ausreichend sein, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage zu
154 Vgl. Smid, MDR 1985, 189, 190.
155 BVerfG, Beschl. v. 02.03.1993 – 1 BvR 249/92 –, BVerfGE 88, 118, 124; Beschl. v. 20.06.1995
– 1 BvR 166/93 –, BVerfGE 93, 99, 107 f. Siehe zum Beschleunigungsgebot in verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 262 f.
156 BVerfG, Beschl. v. 20.07.2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, 214, 215.
52
erbringen157. Bei der Bestimmung der Fristlänge ist somit zwei verfassungsrechtlichen
Geboten Rechnung zu tragen, zum einem dem Gebot effektiven Rechtsschutz, das
ausreichende Stellungnahmemöglichkeiten für den Berufungskläger verlangt, zum anderem dem Beschleunigungsgebot, das im Einzelfall einer zu großzügigen Fristgewährung entgegenstehen kann. Die beiden widerstreitenden Verfassungsprinzipien
sind im Wege der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sowohl
das Gebot effektiven Rechtsschutzes als auch das Beschleunigungsgebot zu jeweils
relativ optimaler Entfaltung kommen158. Auszugehen ist dabei von äußersten Grenzen,
die auch unter Heranziehung kollidierenden Verfassungsrechts nicht unterschritten
werden dürfen, wobei sich die Mindestdauer der Stellungnahmefrist nach dem Gebot
des effektiven Rechtsschutzes und die Höchstdauer nach dem Beschleunigungsgebot
bestimmt wird. Innerhalb des so abgesteckten Rahmens ist sodann im Wege der praktischen Konkordanz ein schonender Ausgleich zwischen den widerstreitenden Verfassungsprinzipien bzw. gegensätzlichen Interessen des Berufungsklägers und des Berufungsbeklagten zu suchen.
Als absolute Untergrenze einer nach Art. 103 Abs. 1 GG zulässigen Fristbestimmung wird im allgemeinen eine Stellungnahmefrist von mindestens vier Arbeitstagen
angesehen159. Die Dauer von vier Arbeitstagen darf mithin bei der Anordnung der
Stellungnahmefrist nach § 522 Abs. 2 ZPO nicht unterschritten werden. Die Höchstdauer der nach § 522 Abs. 2 ZPO zulässigen Stellungnahmefrist wird durch das Beschleunigungsgebot bestimmt. Das Beschleunigungsgebot steht einer exzessiven Praxis der Gehörsgewährung entgegen, wenn dadurch das gerichtliche Verfahren und die
ihm anvertrauten materiellen Rechte der anderen Beteiligten um ihre Durchsetzbarkeit
gebracht würden160. Eine starre Obergrenze der höchstens zulässigen Stellungnahmefrist gibt es danach nicht. Der Festlegung einer starren Obergrenze steht zudem entgegen, dass richterliche Fristen im Gegensatz zu typisierenden gesetzlichen Fristen dem
Einzelfall in stärkerem Maße gerecht werden, also z.B. Umfang und Schwierigkeitsgrad der Rechtssache gebührend berücksichtigen müssen161. Auch wenn eine generalisierende Bestimmung der Fristlänge danach nicht möglich ist, orientiert sich die ganz
herrschende Meinung im Anwendungsbereich des § 522 Abs. 2 ZPO an § 277 Abs. 3
ZPO und erachtet aus diesem Grund eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen als
ausreichend162.
157 BVerfG, Beschl. v. 05.02.2003 – 2 BvR 153/02 –, NVwZ 2003, 859, 860; Pieroth, in: Jarass/
Pieroth, Art. 103 Rdnr. 37; Degenhart, in: Sachs, Art. 103 Rdnr. 27; Nolte, in: M/K/S, Art. 103
Abs. 1 Rdnr. 46.
158 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Einleitung Rdnr. 10.
159 BVerfG, Beschl. v. 12.06.1968 – 2 BvR 31/68 –, BVerfGE 24, 23, 25 f.; Beschl. v. 15.01.1974
– 2 BvL 9/73 –, BVerfGE 36, 298, 302 f.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 103 Rdnr. 37; Schulze-
Fielitz, in: Dreier, Art. 103 Rdnr. 69; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 103 Abs. 1 Rdnr.
124.
160 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 17.
161 BVerfG, Beschl. v. 05.02.2003 – 2 BvR 153/02 –, NVwZ 2003, 859, 860; Pieroth, in: Jarass/
Pieroth, Art. 103 Rdnr. 37; Nolte, in: M/K/S, Art. 103 Abs. 1 Rdnr. 59.
162 OLG Rostsock, Beschl. v. 23.05.2003 – 6 U 43/02 –, zit. n. juris; v. 27.05.2003 – 6 U 43/03 –,
53
Die von der ganz herrschenden Auffassung favorisierte zweiwöchige Stellungnahmefrist ist bei einer generalisierenden Betrachtung als angemessener Ausgleich zwischen dem Gebot effektiven Rechtschutz und dem Beschleunigungsgebot zu begreifen. Sie wird auch in anderen Fällen typischerweise als richterliche Frist gewährt.
Innerhalb von zwei Wochen sollte es dem Beschwerdeführer regelmäßig möglich sein,
zu dem richterlichen Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO Stellung zu nehmen, zumal er sich in der Berufungsschrift bereits mit den anspruchshindernden Tatsachen
und Rechtsansichten auseinandersetzen musste. Auch der Berufungsbeklagte wird
durch die Anordnung einer zweiwöchigen Stellungnahmefrist nicht unverhältnismäßig
belastet. Insbesondere wird das im Zeitpunkt des Hinweisbeschlusses bereits mehrere
Monate andauernde Verfahren durch die Gewährung einer zweiwöchigen Stellungnahmefrist regelmäßig nicht unangemessen in die Länge gezogen. Die materiellen Rechte des Berufungsbeklagten – der im Falle einer Fortsetzung des Berufungsverfahrens
im Urteilsverfahren seinerseits auf eine ausreichende Stellungnahmefrist drängen wird
– werden durch die Einräumung einer zweiwöchigen Stellungnahmefrist für den Berufungskläger in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle auch nicht um ihre Durchsetzbarkeit gebracht. Die an § 277 Abs. 3 ZPO orientierte Auslegung des § 522 Abs. 2
Satz 2 ZPO erscheint deshalb vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Determinanten als sachgerecht, zumindest aber verfassungsrechtlich zulässig. Die Zweiwochenfrist des § 277 Abs. 3 ZPO sollte nach Möglichkeit allerdings nicht überschritten
werden, da dem Berufungsführer bereits die Begründungsfrist zur Verfügung stand
und das Gericht zudem nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zu einer unverzüglichen Entscheidung gehalten ist163.
b) Zur Verlängerung der vom Gericht gewährten Stellungnahmefrist
Nach § 224 Abs. 2 ZPO hat der Berufungskläger die Möglichkeit, eine Fristverlängerung zu beantragen. Die Vorschrift ? ndet auch auf die Stellungnahmefrist des § 522
Abs. 2 Satz 2 ZPO Anwendung164. Voraussetzung für die Gewährung einer Fristverlängerung ist danach, dass erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Erhebliche
Gründe i.S.v. § 224 Abs. 2 ZPO sind z.B. eine Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten, eine Erkrankung des Personals, Urlaube, Vergleichsverhandlungen, eine
festgelegte Kur, Beschaffungsschwierigkeiten bei Beweisurkunden oder Gutachten
sowie die Rücksprache mit der Partei, deren Notwendigkeit sich erst aus der Einsicht
in die Gerichtsakten ergibt165. Wird einer der genannten Gründe behauptet, so kann
der Prozessbevollmächtigte des Berufungsführers im Anwendungsbereich des § 520
Abs. 2 Satz 3 ZPO regelmäßig erwarten, dass einem ersten Antrag auf Verlängerung
zit. n. juris; Reichold, in: Thomas/Putzo, § 522 Rdnr. 18; Meyer-Seitz, in: Hannich/Meyer-Seitz,
§ 522 Rdnr. 28; Rimmelspacher, in: MüKo-ZPO, § 522 Rdnr. 24.
163 Rimmelspacher, in: MüKo-ZPO, § 522 Rdnr. 24.
164 Siehe nur Gummer/Heßler, in: Zöller, § 522 Rdnr. 34.
165 Vgl. Gummer/Heßler, in: Zöller, § 520 Rdnr. 19 und Ball, in: Musielak, § 520 Rdnr. 8 jeweils
mwN.
54
der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, ohne dass hierbei in der Praxis generell eine ausdrückliche anwaltliche Glaubhaftmachung verlangt wird (sog.
„Vertrauensrechtsprechung“)166.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Rostock sind die eine Fristverlängerung
rechtfertigenden „erheblichen Gründe“ im Anwendungsbereich des §§ 522 Abs. 2
ZPO restriktiver zu beurteilen167. Zur Begründung führt das Gericht aus:
„Zu beurteilen sind die ‚erheblichen Gründe’ vor dem Hintergrund des gesetzlichen Regelungszwecks sowohl des Verfahrens zur Fristverlängerung (§§ 224 , 225 ZPO) wie des
Verfahrens zur Zurückweisung einer Berufung durch Beschluss (§ 522 Abs. 2 ZPO). Die
Ausübung des p? ichtgemäßen Ermessens nach § 224 ZPO hat sich […] nicht einzig an
den Interessen der antragstellenden Partei, sondern ebenso an denen der Gegenpartei und
den übergeordneten Belangen der Prozessförderung und der Prozesswirtschaftlichkeit zu
orientieren (vgl. auch Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 61. Au? .,
§ 224 ZPO Rn. 2). Dieser Regelungszweck trifft sich mit den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen eines Zurückweisungsbeschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO. Er dient zum einen
der Verfahrensbeschleunigung und soll der Einlegung von Rechtsmitteln allein in der
Absicht, das Verfahren und den Eintritt der Rechtskraft zu verzögern, wirksam begegnen
(vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 62, 64; Meyer-Seitz, a.a.O., § 522 ZPO Rn. 2).“
Hiervon ausgehend hält das Oberlandesgericht Rostock in seinem Beschluss vom 27.
Mai 2003 weiter fest, dass die zur Verlängerung der Frist für die Berufungsbegründung (§ 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO) höchstrichterlich entwickelte Vertrauensrechtsprechung auf den Antrag zur Verlängerung der nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO bestimmten
Stellungnahmefrist keine Anwendung ? ndet, weil die Voraussetzungen der Fristverlängerung nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO und nach § 522 Abs. 2 Satz 2, 224 Abs. 2,
225 ZPO sowohl nach dem Normgehalt wie nach dem Normzweck unterschiedlich
geregelt sind. Weiter heißt es dann in den Entscheidungsgründen:
„Nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO ist die Fristverlängerung durch den Vorsitzenden - ohne
Einwilligung des Gegners - daran gebunden, dass entweder der Rechtsstreit - nach freier Überzeugung des Vorsitzenden - nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger
erhebliche Gründe darlegt. Zur Verlängerung für die Stellungnahmefrist nach § 522
Abs. 2 Satz 2 ZPO weist die Anwendung ? ndende Vorschrift von § 224 ZPO hingegen
alleine aus, dass „erhebliche Gründe“ für ein begründetes Verlängerungsgesuch geltend
zu machen sind. Angesichts der dargelegten, vom Gesetzgeber mit der ZPO-Reform
2002 erstrebten Beschleunigungs- und Entlastungseffekte (vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 97),
kann indes nicht angenommen werden, dass auf das Merkmal der ‚Verzögerung’ im
Rahmen der p? ichtgemäßem Ermessen folgenden Entscheidung nach §§ 522 Abs. 2
Satz 2 , 224 Abs. 2 ZPO verzichtet werden sollte. Vielmehr spricht der Gesetzeszweck
166 BGH, Beschl. v. 02.02.1983 – VIII ZB 1/83 –, NJW 1983, 1741; v. 11.07.1985 – III ZB 13/85
–, VersR 1985, 972; v. 05.07.1989 – IVb ZB 53/89 –, NJW-RR 1989, 1280; v. 02.11.1989 – III
ZB 49/89 –, zit. n. juris; v. 14.02.1991 – VII ZB 8/90 –, NJW 1991, 1359; v. 07.10.1992 – VIII
ZB 28/92 –, NJW 1993, 134; v. 23.06.1994 – VII ZB 5/94 –, NJW 1994, 2957; v. 24.10.1996 –
VII ZB 25/96 –, NJW 1997, 400 und v. 11.11.1998 – VIII ZB 24/98 –, NJW 1999, 430; v.
18.09.2001 – VI ZB 26/01 –, MDR 2001, 1432.
167 OLG Rostock, Beschl. v. 27.05.2003 – 6 U 43/03 –, zit. n. juris.
55
des § 522 Abs. 2 ZPO sogar für das Gegenteil, so dass bei der Beurteilung der erheblichen Gründe für die Verlängerung der Stellungnahmefrist stets die dadurch eintretende
– automatische – Verfahrensverzögerung (denn ansonsten würde das Berufungsgericht
nach Ablauf der Frist regelmäßig durch Beschluss (§ 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO) entscheiden) mitzubedenken ist. Dies führt aber nach Auffassung des Senats dazu, dass die ‚erheblichen Gründe’, die für das Verlangen, die Frist zu verlängern, anzuführen sind
(§§ 522 Abs. 2 Satz 2 , 224 Abs. 2 ZPO), restriktiver noch als im Falle der Frist zur Verlängerung der Berufungsbegründung (§ 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO) zu beurteilen sind.“
Der vom OLG Rostock befürworteten restriktiven Auslegung ist Schellenberg entgegengetreten. Er gibt zu bedenken, dass eine restriktive Handhabung von Verlängerungsanträgen wegen der fehlenden mündlichen Verhandlung und dem in § 522 Abs.
3 ZPO normierten Rechtsmittelausschluss nicht zuletzt aus verfassungsrechtlicher
Sicht Probleme aufwirft168. Dem kann nur zugestimmt werden. Die von dem Oberlandesgericht Rostock befürwortete Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO verstößt
gegen das Gebot rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung: Welche Erwartungen der
rechtsuchende Bürger an die Verfahrensgestaltung hegen darf, richtet sich im Rechtsstaat grundsätzlich nach der Rechtslage, also danach, wie das Gericht bei zutreffender
Anwendung der maßgeblichen Normen verfahren müsste. Dabei ist eine bekannte
Entscheidungspraxis des angerufenen Spruchkörpers in die Vorausschau einzubeziehen, jedoch nur insoweit, als sie den rechtlichen Anforderungen genügt; denn auf eine
rechtswidrige Spruchpraxis braucht sich der Staatsbürger nicht einzustellen169. Ob
eine Spruchpraxis rechtens ist, ist vorrangig eine Frage einfachen Rechts, dessen Auslegung und Anwendung Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte ist. Die Fachgerichte sind dabei grundsätzlich nicht gehindert, abweichende Auffassungen zu der
Rechtsprechung übergeordneter, insbesondere der obersten Bundesgerichte zu vertreten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Fachgerichte
jedoch aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit gehindert, solche Meinungsverschiedenheiten zu Lasten des Bürgers auszutragen und es ihm zum Verschulden gereichen zu
lassen, wenn er auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts
vertraut. Eine solche Verfahrensgestaltung beschränkt den Anspruch des Bürgers auf
berechenbaren und gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten unzumutbar. Nur wenn
dem rechtsuchenden Bürger bekannt sein muss, dass eine strengere Handhabung von
Verfahrensvorschriften zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung gerechtfertigt
sein170. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Zurückweisung eines Fristverlängerungsantrages deshalb gegen rechtsstaatliche Anforderungen an die
Verfahrensgestaltung und beschränkt den Anspruch auf berechenbaren und gleichmä-
ßigen Zugang zum Rechtsmittelgericht auf unzulässige Art, wenn das Berufungsgericht die Zurückweisung entgegen der vom Bundesgerichtshof aufgestellten und soeben beschriebenen Grundsätze damit begründet, dass der Prozessbevollmächtigte
168 Schellenberg, MDR 2005, 610, 612.
169 BVerfG, Beschl. v. 28.02.1989 – 1 BvR 649/88 –, NJW 1989, 1147. Siehe auch BVerfG, Beschl.
v. 26.07.2007 – 1 BvR 602/07 –, NJW 2007, 3342.
170 BVerfG, Beschl. v. 28.02.1989 – 1 BvR 649/88 –, NJW 1989, 1147.
56
wegen der restriktiven Spruchpraxis der Kammer nicht mit einem Erfolg seines Verlängerungsantrags rechnen durfte171. Entsprechendes gilt, wenn das Gericht die Zurückweisung des Fristverlängerungsantrags damit begründet, dass der Prozessbevollmächtigte die erheblichen Gründe nicht detailliert dargestellt und glaubhaft gemacht
hat172. So führte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 10. August
1998 zur Darlegungslast des Prozessbevollmächtigten aus:
„Soweit das Landgericht vorliegend verlangt hat, der Prozessbevollmächtigte sei zur Erreichung der Fristverlängerung auch ohne entsprechende Aufforderung des Gerichts gehalten gewesen, die erheblichen Gründe detailliert darzustellen und glaubhaft zu machen,
geht dies über die von der einschlägigen Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen
hinaus (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Dezember 1989 - 1 BvR
1395/87 -, S. 5 f.). Mit dieser unüblich strengen Praxis der Kammer des Landgerichts
musste der Anwalt des Beschwerdeführers auch nicht aus anderen Gründen rechnen. Insbesondere hatte die erkennende Kammer des Landgerichts nicht bereits mit der Eingangsmitteilung auf ihre restriktive Handhabung der Verlängerungsregelung schriftlich hingewiesen. In einem solchen Fall widerspricht es dem Gebot rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem Beschwerdeführer die mangelnde Kenntnis der strengeren Spruchpraxis
zum Verschulden gereichen zu lassen. Die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs führt dazu, dass dem Beschwerdeführer der Zugang zur Berufungsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird.“173
Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 26. September 2002 festgehalten, dass der rechtsuchende Bürger auch in verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vertrauen darf. In
den Entscheidungsgründen des Beschlusses führte das Bundesverfassungsgericht
wörtlich aus:
„Der Bevollmächtigte durfte auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl.
BGH, NJW-RR 1990, S. 451 m.w.N.) vertrauen, obwohl sie zu der für das zivilgerichtliche Verfahren maßgeblichen Vorschrift des § 234 Abs. 1 und 2 ZPO ergangen ist. Es
handelt sich insoweit um eine Bestimmung, die der Regelung des § 60 Abs. 2 Satz 1
VwGO inhaltlich entspricht. Unterschiede zwischen dem zivilgerichtlichen und dem
verwaltungsgerichtlichen Verfahren geben keinen Anlass zu der Annahme, die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung werde die Wiedereinsetzungsvorschrift anders und
strenger auslegen als die Zivilgerichte; das Oberverwaltungsgericht hat jedenfalls solche nicht aufgezeigt. Außer der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die aus der
Sicht der Verwaltungsgerichtsordnung keine verfahrensfremde Rechtsprechung ist (vgl.
§ 173 Abs. 1 Satz 1 VwGO), war jedenfalls im Zeitpunkt der Auskunftserteilung keine
davon abweichende höchstrichterliche Rechtsprechung vorhanden.“174
Höchstrichterliche Rechtsprechung, die eine Übertragung der vom Bundesgerichtshof
zu § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO entwickelten Grundsätze auf die Zurückweisung der Beru-
171 BVerfG, Beschl. v. 28.02.1989 – 1 BvR 649/88 –, NJW 1989, 1147.
172 BVerfG, Beschl. v. 04.12.1989 – 1 BvR 1395/87 –, zit. n. juris.
173 BVerfG, Beschl. v. 10.08.1998 – 1 BvR 10/98 –, NJW 1998, 3703. Siehe auch BVerfG, Beschl.
v. 25.09.2000 – 1 BvR 464/00 –, NJW 2001, 812.
174 BVerfG, Beschl. v. 26.09.2002 – 1 BvR 1419/01 –, DVBl. 2003, 130.
57
fung durch Beschluss verbietet, liegt - soweit ersichtlich - bislang nicht vor. Schon aus
diesem Grund verbietet es sich, die „erheblichen Gründe“ im Anwendungsbereich des
§ 522 Abs. 2 ZPO restriktiver zu handhaben als im Falle des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO.
Unabhängig hiervon sind auch nicht solche Unterschiede erkennbar, die eine unterschiedliche Behandlung von Fristverlängerungsanträgen im Anwendungsbereich der
§§ 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO und 522 Abs. 2 ZPO rechtfertigen könnten. Soweit das Oberlandesgericht Rostock die Auffassung vertritt, dass die Voraussetzungen der Fristverlängerung „nach dem Normgehalt und dem Normzweck“ unterschiedlich geregelt sind,
kann dem nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, dass die Fristverlängerung nach § 520
Abs. 2 Satz 3 ZPO daran gebunden ist, dass der Rechtsstreit durch die Verlängerung
nicht verzögert wird oder der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt, wohingegen
die Fristverlängerung nach § 224 Abs. 2 ZPO allein voraussetzt, dass erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Soweit erhebliche Gründe vorgetragen sind, kommt es in
beiden Fällen ungeachtet der unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen indes
nicht darauf an, ob es bei der Gewährung einer Fristverlängerung zu einer Verzögerung
des Rechtsstreits kommt. Uner? ndlich bleibt vor diesem Hintergrund, worin der vom
Oberlandesgericht behauptete Unterschied zwischen § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO auf der
einen und den §§ 522 Abs. 2 Satz 2, 224 Abs. 2 ZPO auf der anderen Seite bestehen
soll, der es rechtfertigt, die sog. Vertrauensrechtsprechung im einen Fall zur Anwendung zu bringen und im anderen nicht. Im Gegenteil: Es besteht überhaupt kein Grund,
den Begriff der erheblichen Gründe im Anwendungsbereich des § 522 Abs. 2 Satz 2
ZPO und des § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO unterschiedlich auszulegen.
c) Zwischenergebnis
Die Stellungnahmefrist des § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO muss mindestens vier Arbeitstage betragen. Im Übrigen bemisst sich die Länge der Stellungnahmefrist nach den Umständen des Einzelfalls. Ausreichend ist es im Allgemeinen, dem Berufungsführer eine
Zwei-Wochen-Frist zu gewähren, damit dieser sich zu dem Hinweis des Gerichts sachlich fundiert äußern kann (§ 277 Abs. 3 ZPO). Eine längere Frist sollte nach Möglichkeit nicht eingeräumt werden, zumal der Berufungskläger nach § 224 Abs. 2 ZPO die
Möglichkeit hat, eine Fristverlängerung zu beantragen. Um die beantragte Fristverlängerung zu erlangen, hat der Prozessbevollmächtigte des Berufungsklägers in seiner
Antragsschrift einen erheblichen Grund i.S.v. § 224 Abs. 2 ZPO vorzutragen. Tut er
dies, kann er regelmäßig erwarten, dass einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, und zwar selbst dann, wenn er den erheblichen Grund nicht glaubhaft gemacht hat.
4. Zum rechtlichen Gehör des Berufungsbeklagten
Unterschiedlich beurteilt wird die Frage, ob das Berufungsgericht den Eingang der
Berufungserwiderung abwarten muss, bevor es die Berufung durch Beschluss zurückweisen darf. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Koblenz ist eine „verantwortliche Entscheidung“ immer erst aufgrund umfassender Durcharbeitung und Beratung
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Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.