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Falls bei feststehendem Sachverhalt die Aussichtslosigkeit der Berufung ergäbe117.
Dieser Einwand überzeugt nicht. Innerhalb der unbegründeten Berufungen lässt sich
durchaus danach differenzieren, ob das Berufungsgericht die Aussichtslosigkeit der
Berufungen aufgrund einer aufwändigen Prüfung der Sach- und Rechtslage festgestellt hat und seine Entscheidung umfänglich begründen musste oder ob die Zurückweisung der Berufung, etwa aufgrund entgegenstehender höchstrichterlicher Rechtsprechung, auf der Hand lag und daher auch keiner ausführlichen Begründung bedurfte. Auch der Bundesrat hielt eine Differenzierung nach unbegründeten und
offensichtlich unbegründeten Berufungen für möglich, wie der bereits angesprochene
Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens und des
Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit deutlich macht. So führte der Bundesrat in
der Gesetzesbegründung zu § 519c ZPO-E aus:
„Nach § 519c der Entwurfsfassung kann das Berufungsgericht die Annahme der Berufung bis zur Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung oder bis zur Anordnung einer Beweisaufnahme durch Beschluss ablehnen, wenn die Mitglieder des
Spruchkörpers darin übereinstimmen, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht
auf Erfolg hat. Für eine Verwerfung der Berufung durch Beschluss reicht demnach nicht
aus, dass alle Mitglieder des Spruchkörpers diese nach Prüfung der Berufungsbegründung für unbegründet halten, sie müssen vielmehr übereinstimmend der Auffassung
sein, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, und zwar unter
keinem rechtlichen Gesichtspunkt.“118
Dass nach der Auffassung des Gesetzgebers zwischen begründeten und offensichtlich
unbegründeten Rechtsmitteln unterschieden werden kann, zeigen im Übrigen auch die
Vorschriften der §§ 313 Abs. 2 Satz 1 und 78 Abs. 1 AsylVfG, die ebenfalls den Begriff der offensichtlichen Unbegründetheit verwenden. Auch an anderer Stelle gebraucht das Gesetz den Begriff der offensichtlichen Unbegründetheit. Beispielhaft
anführen lassen sich etwa die §§ 246a Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 2 AktG, 121 BauGB,
74 BDG, 102 BetrVG, 24 BVerfGG,112 GWB. Sogar die Zivilprozessordnung spricht
in § 1077 Abs. 3 ZPO im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Prozesskostenhilfe von offensichtlich unbegründeten Anträgen. Der Einwand des OLG Koblenz,
eine Unterscheidung nach offensichtlich unbegründeten Berufungen sei praktisch
nicht möglich, greift nach alledem nicht durch.
2. Zur mangelnden grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
Nach § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO ist unabhängig von der Erfolgsaussicht einer Berufung auch dann zwingend im Urteilsverfahren über die Berufung zu entscheiden,
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Durch diese Einschränkung
117 OLG Koblenz, Beschl. v. 20.02.2003 – 10 U 883/02 –, NJW 2003, 2100, 2102 f. Siehe auch
Krüger, NJW 2008, 945, 946; Vossler, MDR 2008, 722.
118 BT-Drs. 13/6398, S. 30.
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wollte der Gesetzgeber für mehr gerichtliche Entscheidungen als bisher den Weg zur
höchstrichterlichen Rechtsprechung öffnen und damit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Rechtsgebiete zugänglich machen, die durch die bis dahin geltende
Beschränkung des Instanzenzuges bei amtsgerichtlichen Urteilen und die Streitwertrevision nicht zum höchsten Gericht gelangen konnten119.
Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung ist genauso auszulegen wie der wortgleiche Begriff in § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr.1 ZPO120. Er knüpft in beiden Fällen an die
herkömmliche De? nition in § 546 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZPO a.F. an121. Eine Rechtssache hat danach grundsätzliche Bedeutung, „wenn eine klärungsbedürftige Rechtsfrage
zu entscheiden ist, deren Auftreten in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen denkbar
ist.“ Erfasst sind daher insbesondere Modell- und Musterprozesse, aber auch Verfahren, „in denen die Auslegung typischer Vertragsbestimmungen, Tarife, Formularverträge oder allgemeiner Geschäftsbedingungen erforderlich wird oder in denen die Entscheidung einer Einzelfrage (z.B. auf den Gebieten des Wettbewerbsrechts oder des
Urheberrechts u.a.) die Rechtsentwicklung fördert.“ Darüber hinaus ist von einer
grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache auszugehen, „wenn entweder die Instanzengerichte dem Bundesgerichtshof weitgehend nicht folgen oder im Schrifttum ernst
zu nehmende Bedenken gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung geäußert werden, um der Gefahr einer Rechtserstarkung entgegenzuwirken“122.
Über dieses herkömmliche Verständnis hinaus soll der Begriff der grundsätzlichen
Bedeutung nunmehr aber auch weitere Konstellationen erfassen. Dies hat der Gesetzgeber durch die Aufnahme der Regelung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO zum Ausdruck bringen wollen. So konkretisieren die dort genannten Voraussetzungen der
„Fortbildung des Rechts“ und der „Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“
seinem Willen nach den Begriff der grundsätzlichen Bedeutung123. § 522 Abs. 2 Satz
1 Nr. 3 ZPO soll danach auch Fälle erfassen, in denen dem Gericht Fehler bei der Auslegung oder Rechtsanwendung „von erheblichen Gewicht“ unterlaufen sind, die „geeignet sind, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen“, wobei der Gesetzgeber vor allem an Fälle dachte, „in denen Verfahrensgrundrechte, namentlich die
Grundrechte auf Gewährung des rechtlichen Gehörs und auf ein objektives willkürfreies Verfahren verletzt sind und deswegen Gegenvorstellung erhoben und Verfassungsbeschwerde eingelegt werden könnte“124. Daneben soll die Erweiterung durch
§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO zum Ausdruck bringen, dass einer Sache grundsätzliche
Bedeutung nicht nur dann zukommt, wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung erfordert, sondern auch
dann, „wenn andere Auswirkungen des Rechtsstreits auf die Allgemeinheit deren
119 BT-Drs. 14/4722, S. 97.
120 Vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 97.
121 BT-Drs. 14/4722, S. 104.
122 BT-Drs. 14/4722, S. 104.
123 BT-Drs. 14/4722, S. 104.
124 BT-Drs. 14/4722, S. 104.
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Interesse in ganz besonderem Maße berühren, wie z.B. das tatsächliche oder wirtschaftliche Gewicht der Sache für den beteiligten Rechtsverkehr“125.
Die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Zurückweisung der Berufung
durch § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO dient nach alledem in erster Linie öffentlichen
Interessen. Vor diesem Hintergrund scheint es nahezu ausgeschlossen zu sein, dass es
bei der Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zu Kon? ikten mit den verfassungsrechtlich geschützten Rechten des Berufungsklägers, insbesondere mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör kommen kann. Dies folgt bereits daraus, dass die Regelung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO – jedenfalls im Vergleich zu einer isolierten
Betrachtung der prozessualen Situation des Berufungsführers nach § 522 Abs. 2 Satz
1 Nr. 1 ZPO – dessen Rechtsposition erweitert, da er selbst in den Fällen mangelnder
Erfolgaussichten die Chance erhält, das Gericht in der mündlichen Verhandlung umzustimmen und für die von ihm vorgetragene Rechtsauffassung zu gewinnen. Eine
Verletzung der Rechte des Berufungsführers ist danach grundsätzlich ausgeschlossen.
Eine Ausnahme bildet hier der bereits in der Einleitung angesprochene Beschluss des
OLG Dresden, mit dem das Gericht die Berufung der Kläger zurückgewiesen hatte,
obwohl sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine für sie günstige Änderung der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzeichnete. In diesem Fall erblickte das
Bundesverfassungsgericht in der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss zu
Recht eine Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz126. Eine Verletzung
des Rechts auf effektiven Rechtsschutz bejahte das Bundesverfassungsgericht allerdings nur, weil im Zeitpunkt der Entscheidung bereits Pressemitteilungen über eine
bereits ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs vorlag. Nicht ausreichend für
die Annahme eines Verfassungsverstoßes sind hingegen unter Beweis gestellte Äußerungen von Richtern im Rahmen einer mündlichen Verhandlung oder der Terminsbericht eines Prozessbevollmächtigten über den Verlauf einer Rechtssache, in der die
abschließende Beratung und Entscheidung noch ausstand. Dies stellte das Bundesverfassungsgericht in einem späteren Beschluss klar127.
3. Zur mangelnden Erforderlichkeit einer Entscheidung im Hinblick auf die
Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
Nach § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO scheidet eine Zurückweisung der Berufung durch
Beschluss aus, wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Diese Einschränkung dient ebenso wie der Ausschluss der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss in Fällen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache dazu, den Weg für
mehr gerichtliche Entscheidungen zur höchstrichterlichen Rechtsprechung zu eröffnen
125 BT-Drs. 14/4722, S. 105.
126 BVerfG, Beschl. v. 26.04.2005 – 1 BvR 1924/04 –, NJW 2005, 1931.
127 BVerfG, Beschl. v. 23.10.2007 – 1 BvR 1300/06 –, NJW 2008, 504.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.