27
Unterscheidung als vielmehr das Ziel, das der Gesetzgeber mit der Normierung des
§ 522 Abs. 3 ZPO verfolgte. Einstimmigkeit oder eine Übereinstimmung mit der Vorinstanz kann – wie die kritischen Stimmen in der Literatur einwenden – auch im Urteilsverfahren vorliegen. Diese beiden Kriterien können für sich genommen folglich
nicht der sachliche Grund für die Differenzierung sein. Der sachliche Grund für die
Differenzierung ist vielmehr in dem Umstand zu suchen, dass alle Mitglieder des Berufungsgerichts bereits aufgrund des Akteninhalts und nicht erst aufgrund einer mündlichen Verhandlung davon überzeugt sind, dass die Berufung unbegründet ist. Dies
geht aus der Gesetzesbegründung zu § 522 ZPO hervor. Die Regelung des § 522 Abs.
2 und 3 ZPO soll danach im Gegensatz zum Urteilsverfahren Fälle erfassen, „in denen
sich die Erfolgsaussichten schon aufgrund der Berufungsbegründung, spätestens aber
nach Vorliegen der Berufungserwiderung und der Replik abschließend beurteilen
lassen“88. Der Gesetzgeber spricht in diesem Zusammenhang von „substanzlosen Berufungen“ bzw. „offensichtlich unbegründeten Berufungen“. Für diese Art von Berufungen wollte er eine „beschleunigte“ bzw. „verfahrensökonomische Erledigungsmöglichkeit“ schaffen89. Dieses Bestreben des Gesetzgebers lässt sich nicht kritisieren90. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass „sachlich einleuchtende Gründe“
für die vom Gesetzgeber angeordnete Differenzierung im Bereich des Berufungsverfahrens „schlechterdings nicht mehr erkennbar“ sind. Sachlich einleuchtender Grund
für die Differenzierung ist die von vornherein fehlende Erfolgsaussicht der im Beschlusswege erledigten Berufung, die sich im Gegensatz zu den sonstigen Berufungsverfahren bereits nach Lage der Akten abzeichnet und in der Übereinstimmung mit der
Vorinstanz und der einstimmigen Beschlussfassung durch das Berufungsgericht lediglich ihren besonderen Ausdruck ? ndet. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nach
alledem nicht vor. Dies hat zwischenzeitlich auch das Bundesverfassungsgericht in
seinem Beschluss vom 18. Juni 2008 klargestellt91.
5. Zum Anspruch auf gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten
Völlig außer Acht gelassen hat die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO bislang den Umstand, dass die Berufungsgerichte
in sehr unterschiedlichem Umfang von dem Zurückweisungsbeschluss Gebrauch machen. Wie aus den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes aus dem Bereich
der Zivilrechtsp? ege für die Jahre 2002 bis 200592 hervorgeht, schwankt der Anteil der
Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren in den einzelnen OLG-Bezirken zwischen 0 und 25,7 Prozent. Dies zeigen die
88 BT-Drs. 14/4722, S. 97.
89 Vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 1, 60 und 96 f.
90 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.03.1993 – 1 BvR 249/92 –, BVerfGE 88, 118, 124 f.; Beschl. v.
20.07.2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, 214, 215.
91 BVerfG, Beschl. v. 18.06.2008 – 1 BvR 1336/08 –, zit. n. juris.
92 Fachreihe 10 Reihe 2.1. Im Internet veröffentlicht unter www.destatis.de.
28
nachstehenden, auf den Angaben des Statistischen Bundesamtes basierenden Gra? ken.
Anteil der Beschlüsse gem. § 522 Abs. 2 ZPO an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren (in Prozent)
2,4
2,4
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
Ka
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An
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Th
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en
OLG
LG
Ø OLG
Ø LG
2002
8,6
7,4
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
Ka
rls
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OLG
LG
Ø OLG
Ø LG
2003
11,0
10,7
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
Ka
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Sc
hle
sw
ig-
Ho
lste
in
Th
üri
ng
en
OLG
LG
Ø OLG
Ø LG
2004
29
Betrachtet man die Gra? k aus dem Jahr 2005, so ist auch in dem vierten Jahr nach dem
Inkrafttreten der Zivilprozessreform festzustellen, dass der Anteil der Beschlüsse gemäß § 522 Abs. 2 ZPO an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren in den einzelnen OLG-Bezirken zwischen 0,7 und 25,7 Prozent schwankt, und dies, obwohl der
durchschnittliche Anteil bundesweit sowohl bei den Landgerichten und als auch bei
den Oberlandesgerichten im gleichen Zeitraum von 2,4 auf 12,1 Prozent angestiegen
ist, insgesamt also mehr Gebrauch von der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss gemacht wurde.
Noch erheblicher fallen die Schwankungen aus, wenn man den Blick weg von den
Zahlen aller Berufungsgerichte eines Gerichtsbezirks hin zu denen einzelner Kammern bzw. Senaten lenkt. Eine Anfrage bei dem Schleswig-Holsteinischen Ministerium für Justiz, Arbeit und Europa hat ergeben, dass einige Berufungskammern bzw.
-senate überhaupt keinen Gebrauch von der Möglichkeit der Beschlusszurückweisung
machen, andere hingegen bis zu 50 Prozent. Die Unterschiede zwischen den einzelnen
Kammern bzw. Senaten der schleswig-holsteinischen Berufungsgerichte gehen aus
den untenstehenden Gra? ken hervor93.
93 Die nachstehenden Gra? ken beruhen auf einer anonymisierten Auskunft des Ministeriums vom
11.05.2007.
12,1
12,1
0,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
Ka
rls
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Ba
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Kö
ln
Ko
ble
nz
Zw
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ke
n
Sa
ar
lan
d
Sa
ch
se
n
Sa
ch
se
n-
An
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lt
Sc
hle
sw
ig-
Ho
lste
in
Th
üri
ng
en
OLG
LG
Ø OLG
Ø LG
2005
30
17,6
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Kammer
Ø
Anteil der Beschlüsse gem. § 522 Abs. 2 ZPO an den insgesamt erledigten
Berufungsverfahren (in Prozent)
4,5
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Kammer
Ø
Landgerichte 2002
15,5
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Kammer
Ø
Landgerichte 2003
Landgerichte 2004
31
Landgerichte 2005
19,8
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
Kammer
Ø
Oberlandesgericht 2002
Oberlandesgericht 2003
1,40,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P
Senat
Ø
6,3
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P
Senat
Ø
32
Die Gra? ken verdeutlichen, dass sich trotz eines steigenden Anteils der Beschlüsse
nach § 522 Abs. 2 ZPO an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren bei der Anwendungshäu? gkeit Schwankungen zwischen den einzelnen OLG-Bezirken von über
20 Prozent ergeben und die Unterschiede zwischen den einzelnen Kammern bzw. Senaten eines OLG-Bezirks sogar bis zu 50 Prozent betragen94. Erklären lassen sich diese Schwankungen nur damit, dass die Berufungsgerichte sehr unterschiedliche Anforderungen an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO stellen.
94 Siehe auch Heßler, in: FS Vollkommer, S. 319 Fn. 36.
Oberlandesgericht 2005
Oberlandesgericht 2004
9,2
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P
Senat
Ø
11,8
0,0
10,0
20,0
30,0
40,0
50,0
60,0
A B C D E F G H I J K L M N O P
Senat
Ø
33
Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften über den Zurückweisungsbeschluss wird
durch die unterschiedliche Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO jedoch nicht in Frage gestellt. Es ist allgemein anerkannt, dass die verschiedene Auslegung und Anwendung
derselben Rechtsvorschrift durch verschiedene Behörden oder Gerichte kein Verfassungsrecht verletzt95. Etwas anderes gilt nur dann, wenn „die fehlerhafte Gesetzesanwendung unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken
nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht“96. Ob sich ein Berufungsgericht bei der Anwendung des
§ 522 Abs. 2 ZPO von sachfremden Erwägungen leiten lässt, kann indes nur im Einzelfall beurteilt werden. Die Verfassungsmäßigkeit des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO selbst
wird durch die unterschiedliche Auslegung der Vorschrift hingegen nicht in Frage gestellt. Gleichwohl ist es vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich verankerten
Anspruchs des Bürgers auf berechenbaren und gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten97 als verfassungsrechtlich fragwürdig und rechtspolitisch verfehlt zu bezeichnen,
dass zweitinstanzliche Entscheidungen in den vergangenen Jahren in einigen OLG-
Bezirken in 99 von 100 Fällen und in anderen OLG-Bezirken lediglich in 77 von 100
Fällen angefochten werden konnten. Will man ein solches Ungleichgewicht verhindern, muss man die Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO abschaffen oder sich um eine
einheitlichere Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO bemühen.
95 BVerfG, Beschl. v. 13.06.1952 – 1 BvR 137/52 –, BVerfGE 1, 332, 345 f.; Beschl. v. 30.11.1955
– 1 BvL 120/53 –, BVerfGE 4, 352, 358; Beschl. v. 12.01.1967 – 1 BvR 335/63 –, BVerfGE 21,
87, 91; Beschl. v. 27.01.1999 – 2 BvR 609/96 –, zit. n. juris; Beschl. v. 05.06.2002 – 2 BvR
888/01 –, NVwZ-RR 2002, 705; Starck, in: von M/K/S, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 282 ff.; Gubelt, in:
von Münch/Kunig, Art. 3 Rdnr. 45.
96 BVerfG, Beschl. v. 06.05.1987 – 2 BvL 11/85 –, BVerfGE 75, 329, 347.
97 BVerfG, Beschl. v. 28.02.1989 – 1 BvR 649/88 –, BVerfGE 79, 372, 376 f. Siehe zum Anspruch
auf berechenbaren und gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten auch BVerfG, Beschl. v.
23.09.1992 – 2 BvR 871/92 –, NJW 1993, 720; Beschl. v. 30.03.1995 – 2 BvR 2119/94 –, NJW
1995, 2544; Beschl. v. 24.11.1997 – 1 BvR 1023/96 –, NJW 1998, 1853; Beschl. v. 10.08.1998
– 1 BvR 10/98 –, NJW 1998, 3703 und Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 22, 42 ff.
und 378 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.