26
nicht aber Beschlüsse, die eine Berufung als unbegründet zurückweisen86. Diese Differenzierung überschreite nicht die dem Gesetzgeber durch das Willkürverbot gezogene Grenze. Für sie ? nde sich ein sachlicher Grund:
„Dass Berufungsverwerfungen im Rechtszug weitergehend überprüfbar sind als Entscheidungen des Berufungsgerichts über die Begründetheit einer Berufung, ist im
Rechtsmittelsystem der ZPO nicht neu. [...] Bereits vor der Zivilprozessreform sollte die
weitergehende Anfechtbarkeit von Verwerfungsentscheidungen sicherstellen, dass einer
Prozesspartei eine zweite Tatsacheninstanz gesichert ist, weil der Instanzenzug im öffentlichen Interesse geregelt ist (Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Au? . [1994], § 547
Rdnr. 1 sowie § 519 Rdnr. 1). Ob eine zweite Tatsacheninstanz zu Recht verweigert
wird, soll in jedem Falle überprüfbar sein. Außerdem kann der Gesetzgeber aus Gründen der Rechtssicherheit eine einheitliche Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung von Zulässigkeitsvoraussetzungen eher für notwendig erachten als bei materiellen,
oft auf den Einzelfall oder die Tatsachenfeststellungen bezogenen Fragen. Er kann daher
eine höchstrichterliche Überprüfbarkeit jeglicher Verwerfungsentscheidung vorsehen.
Eben aus diesem Grunde hat er mit der Zivilprozessreform 2001 dem BGH die Möglichkeit eröffnet, Ein? uss auf die Anwendung und Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Berufung auch dann zu nehmen, wenn sie durch Beschluss verworfen
wird (vgl. BT-Dr 14/4722, S. 96).“
(Hervorhebung durch den Autor)
Diese Ausführungen überzeugen. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist demnach, dass der Zurückweisungsbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO anders als
der Verwerfungsbeschluss nach § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht anfechtbar ist. Nicht
geäußert hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 01. Oktober
2004 zu der Frage, ob die Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verstößt, weil sie den Zurückweisungsbeschluss im Gegensatz zum Berufungsurteil
für unanfechtbar erklärt. Dies bemängelte Gottwald in einer Anmerkung zu der Entscheidung87.
d) Eigene Stellungnahme
Betrachtet man die bisherige Diskussion um die Vereinbarkeit der Regelung des § 522
Abs. 2 und 3 ZPO mit dem Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit, so fragt sich, ob die
einstimmige Entscheidung des Berufungsgerichts, die Übereinstimmung mit der Vorinstanz, die beabsichtigte Entlastung der Revisionsgerichte oder das Streben nach einer beschleunigten Erledigung erfolgloser Berufungen die Ungleichbehandlung des
Beschlussverfahrens im Vergleich zum Urteilsverfahren sachlich rechtfertigt. Meines
Erachtens ist keiner der genannten Gründe geeignet, die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen: Die angestrebte Entlastung der Revisionsgerichte und die erhoffte Beschleunigung des Berufungsverfahrens beschreiben weniger den sachlichen Grund für die
86 BVerfG, Beschl. v. 01.10.2004 – 1 BvR 173/04 –, NJW 2005, 659 f.
87 Gottwald, FamRZ 2005, 428.
27
Unterscheidung als vielmehr das Ziel, das der Gesetzgeber mit der Normierung des
§ 522 Abs. 3 ZPO verfolgte. Einstimmigkeit oder eine Übereinstimmung mit der Vorinstanz kann – wie die kritischen Stimmen in der Literatur einwenden – auch im Urteilsverfahren vorliegen. Diese beiden Kriterien können für sich genommen folglich
nicht der sachliche Grund für die Differenzierung sein. Der sachliche Grund für die
Differenzierung ist vielmehr in dem Umstand zu suchen, dass alle Mitglieder des Berufungsgerichts bereits aufgrund des Akteninhalts und nicht erst aufgrund einer mündlichen Verhandlung davon überzeugt sind, dass die Berufung unbegründet ist. Dies
geht aus der Gesetzesbegründung zu § 522 ZPO hervor. Die Regelung des § 522 Abs.
2 und 3 ZPO soll danach im Gegensatz zum Urteilsverfahren Fälle erfassen, „in denen
sich die Erfolgsaussichten schon aufgrund der Berufungsbegründung, spätestens aber
nach Vorliegen der Berufungserwiderung und der Replik abschließend beurteilen
lassen“88. Der Gesetzgeber spricht in diesem Zusammenhang von „substanzlosen Berufungen“ bzw. „offensichtlich unbegründeten Berufungen“. Für diese Art von Berufungen wollte er eine „beschleunigte“ bzw. „verfahrensökonomische Erledigungsmöglichkeit“ schaffen89. Dieses Bestreben des Gesetzgebers lässt sich nicht kritisieren90. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass „sachlich einleuchtende Gründe“
für die vom Gesetzgeber angeordnete Differenzierung im Bereich des Berufungsverfahrens „schlechterdings nicht mehr erkennbar“ sind. Sachlich einleuchtender Grund
für die Differenzierung ist die von vornherein fehlende Erfolgsaussicht der im Beschlusswege erledigten Berufung, die sich im Gegensatz zu den sonstigen Berufungsverfahren bereits nach Lage der Akten abzeichnet und in der Übereinstimmung mit der
Vorinstanz und der einstimmigen Beschlussfassung durch das Berufungsgericht lediglich ihren besonderen Ausdruck ? ndet. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt nach
alledem nicht vor. Dies hat zwischenzeitlich auch das Bundesverfassungsgericht in
seinem Beschluss vom 18. Juni 2008 klargestellt91.
5. Zum Anspruch auf gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten
Völlig außer Acht gelassen hat die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO bislang den Umstand, dass die Berufungsgerichte
in sehr unterschiedlichem Umfang von dem Zurückweisungsbeschluss Gebrauch machen. Wie aus den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes aus dem Bereich
der Zivilrechtsp? ege für die Jahre 2002 bis 200592 hervorgeht, schwankt der Anteil der
Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO an den insgesamt erledigten Berufungsverfahren in den einzelnen OLG-Bezirken zwischen 0 und 25,7 Prozent. Dies zeigen die
88 BT-Drs. 14/4722, S. 97.
89 Vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 1, 60 und 96 f.
90 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.03.1993 – 1 BvR 249/92 –, BVerfGE 88, 118, 124 f.; Beschl. v.
20.07.2000 – 1 BvR 352/00 –, NJW 2001, 214, 215.
91 BVerfG, Beschl. v. 18.06.2008 – 1 BvR 1336/08 –, zit. n. juris.
92 Fachreihe 10 Reihe 2.1. Im Internet veröffentlicht unter www.destatis.de.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.