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diesen Anforderungen genügt, ist umstritten. Einer sachlichen Rechtfertigung bedarf
jedenfalls der Umstand, dass der Zurückweisungsbeschluss nach § 522 Abs. 2 Satz 1
ZPO im Unterschied zum Berufungsurteil und zum Verwerfungsbeschluss nach § 522
Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht angefochten werden kann.
a) Zu den bisherigen Rechtfertigungsversuchen
Diejenigen, die einen sachlichen Grund und damit eine Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung annehmen, begründen ihre Auffassung damit, dass sowohl die erste
Instanz als auch das Berufungsgericht in seiner Besetzung mit drei Richtern das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig erachten78. Das OLG Koblenz führt hierzu in
seinem Beschluss vom 20.02.2003 wörtlich aus:
„Insoweit dürfte es jedoch ausreichend sein, auf die wenigstens in gewissem Umfang
erhöhte Richtigkeitsgewähr der Übereinstimmung von zwei Gerichtsinstanzen (‚duae
conformes’) zu verweisen, auch wenn diese gleichermaßen für Zurückweisung durch
Urteil gilt und sich auf die inhaltliche Richtigkeit der Sachentscheidung, nicht aber auf
das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen bezieht, insbesondere aber auf die zusätzliche Vorkehrung des Einstimmigkeitserfordernisses. Bei der Gewichtung der insoweit zu stellenden Anforderungen dürfte im Übrigen durchaus relativierend in Ansatz
zu bringen sein, dass in jedem Fall eine verantwortliche, p? ichtgebundene gerichtliche
Prüfung des Vorliegens der Revisionszulassungsgründe erfolgt und die Differenzierung
sich allein auf die Eröffnung einer diesbezüglichen Überprüfungsmöglichkeit durch
eine weitere Instanz beschränkt, es zudem bei der Entscheidung der Frage jedenfalls in
erheblichen Umfang um im öffentlichen Interesse liegende Revisionszwecke geht, auch
wenn die Gewährung individuellen Rechtsschutzes hiermit natürlich stets untrennbar
verknüpft ist“79.
b) Zur Kritik der Literatur
Teile der Literatur sind diesen Rechtfertigungsversuchen entgegengetreten80. Ihrer
Auffassung nach ist weder die Einstimmigkeit noch die Übereinstimmung mit der Vorinstanz ein taugliches Begründungskriterium für die Unanfechtbarkeit nach § 522 Abs.
3 ZPO. Wenn ein Richter in erster Instanz und drei Richter in der Berufungsinstanz in
einer Zulässigkeitsprüfung zu demselben Ergebnis kämen, könne die beschwerte Partei Rechtsbeschwerde einlegen (§ 522 Abs. 1 ZPO). Und wenn ein Richter in erster
Instanz und drei Richter in der Berufungsinstanz die Berufung nach mündlicher Verhandlung als unzulässig oder unbegründet zurückwiesen, gebe es dagegen die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 ZPO). Die vom Gesetzgeber angeordnete Differenzierung sei daher „willkürlich“, so Schneider. Es sei nicht um die Einsicht herumzukom-
78 BT-Drs. 14/4722, S. 97; OLG Koblenz, Beschl. v. 20.02.2003 – 10 U 883/02 –, NJW 2003, 2100;
Meyer-Seitz, in: Hannich/Meyer-Seitz, § 522 Rdnr. 35.
79 OLG Koblenz, Beschl. v. 20.02.2003 – 10 U 883/02 –, NJW 2003, 2100, 2101 f.
80 Rimmelspacher, in: MüKo-ZPO, § 522 Rdnr. 35; Lindner, ZIP 2003, 192, 197 f.; Schneider,
AnwBl 2003, 193, 194; ders., in: ZAP Fach 13, 1239; Krüger, NJW 2008, 945.
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men, „dass den Parteien ausgerechnet gegen Entscheidungen, die wegen des Fehlens
einer mündlichen Verhandlung besonders fehlerträchtig sind, der Rechtsschutz versagt
wird“81. Rimmelspacher fügt hinzu, dass die Einstimmigkeit ein Gesichtspunkt sei, der
sonst für die Zulässigkeit eines zivilprozessualen Rechtsmittels irrelevant sei, an der
Realität der Kollegialentscheidungen vorbeigehe und daher auch an dieser Stelle als
sachfremd nicht in die Waagschale geworfen werden dürfe. Dasselbe gelte für den
Umstand, dass Eingangs- und Berufungsgericht übereinstimmen82. Darüber hinaus
gab er in einer Vorau? age zu bedenken, dass der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 522 ZPO auf der Zulässigkeitsebene einen weitgehenden Gleichlauf zwischen den Fällen der Verwerfung durch Urteil und durch Beschluss habe herbeiführen wollen, damit der Bundesgerichtshof in beiden Fällen als Revisions- oder
Beschwerdegericht die Möglichkeit erhalte, Ein? uss auf die Anwendung und Auslegung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Berufung zu nehmen. Dieser Gleichlaufgedanke habe nicht weniger Gewicht, wenn es um den Ein? uss des Bundesgerichtshofs bei der Anwendung des materiellen Rechts gehe83. Entsprechende Ausführungen ? nden sich bei Lindner. Seiner Auffassung nach sind über die genannten
Kriterien hinaus auch keine anderen Gründe ersichtlich, die die verfahrensrechtliche
Schlechterstellung des Berufungsklägers rechtfertigen könnten. Insbesondere gäben
die mit dem Zurückweisungsverfahren verfolgten Ziele, eine beschleunigte Erledigung erfolgloser Berufungen zu ermöglichen und so die Rechtsmittelgerichte zu entlasten, nicht schon selbst taugliche Differenzierungskriterien ab. Der Gesetzgeber
habe vielmehr die dafür geeigneten Rechtssachen durch möglichst klare Merkmale
abzugrenzen. Vor allem dürfe er den Gerichten keine Selbststeuerung ihrer Arbeitslast
ermöglichen. Der Zugang zum Rechtsmittel wäre dann von der Arbeitsbelastung des
Spruchkörpers und nicht von allgemein gleichen, in der Rechtssache selbst liegenden
Kriterien abhängig84. Selbst Meyer-Seitz, der die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses durch das Erfordernis der Einstimmigkeit gerechtfertigt sieht, stellt
die Unanfechtbarkeit in Frage und merkt in diesem Zusammenhang an, dass bereits
ein geringfügiger Fehler bei der Kostenverteilung oder der Zinsentscheidung im erstinstanzlichen Urteil darüber entscheiden kann, ob dem Berufungsführer das Berufungshauptverfahren eröffnet wird und ob ihm durch die Nichtzulassungsbeschwerde
der Zugang zum Revisionsgericht offen steht85.
c) Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Oktober 2004
Am 1. Oktober 2004 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass es nicht gegen das
Recht auf gleichen Rechtsschutz aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoße,
dass nur Beschlüsse, die eine Berufung als unzulässig verwerfen, anfechtbar seien,
81 Schneider, AnwBl 2003, 193, 194.
82 Rimmelspacher, in: MüKo-ZPO, § 522 Rdnr. 35.
83 Rimmelspacher, in: MüKo-ZPO, Aktualisierungsband § 522 Rdnr. 34.
84 Lindner, ZIP 2003, 192, 197 f.
85 Meyer-Seitz, in: Hannich/Meyer-Seitz, § 522 Rdnr. 35.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Abhandlung gibt Antwort auf nahezu alle Fragen, die sich bei der Anwendung der Vorschriften über die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess stellen (§ 522 Abs. 2 und 3 ZPO). Sie geht nicht nur auf die Frage der zutreffenden Auslegung des § 522 Abs. 2 ZPO ein, sondern untersucht auch die rechtstatsächliche Situation vor und nach der Einführung des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses. Anhand der Justizgeschäftsstatistiken des Statistischen Bundesamtes wird nachgewiesen, dass die Einführung des Beschlussverfahrens zu einer erheblichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt hat. Kritisch hinterfragt wird die Auslegung des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch die Rechtsprechung sowie die stark unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte bei der Anwendung der Vorschriften über die Beschlusszurückweisung. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften wird gleichwohl nicht in Frage gestellt. Wegen des unterschiedlichen Zugangs zur Revisionsinstanz fordert der Autor allerdings die Abschaffung der Regelung des § 522 Abs. 3 ZPO über die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses.