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Zusammenfassung
Zum 1. Teil: Völkerrechtliche Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention
1. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen wurde am 30. März 2007 von Regierungsvertretern der
Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Die Verbandskompetenz des Bundes zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge umfasst nach der ständigen
Staatspraxis, der das Lindauer Abkommen zugrunde liegt, auch die bildungsrechtlichen Inhalte der Behindertenrechtskonvention. Das Abkommen erlangt
erst dann völkerrechtliche Verbindlichkeit, wenn es ratifiziert wird (Art. 43
BRK). Dies ist bislang nicht geschehen. Die Ratifikation der Behindertenrechtskonvention setzt innerstaatlich gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG die Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat in der Form eines Vertragsgesetzes voraus.
Das Verfahren nach dem Lindauer Abkommen verlangt aufgrund der Betroffenheit der Länderkompetenzen die Einholung des Einverständnisses der Länder
spätestens zum Zeitpunkt der Zuleitung des Vertragsgesetzes an den Bundestag.
2. Der Behindertenrechtskonvention liegt in Art. 1 Abs. 2 Hs. 1 BRK sowie in der
Präambel lit. e BRK ein weiter und offener Behinderungsbegriff zugrunde. Der
personale Anwendungsbereich des Abkommens erstreckt sich auch auf Menschen mit geistigen Behinderungen und Menschen mit Schädigungen ihrer
Kommunikationsfähigkeiten (z. B. Stotterer und Legastheniker).
3. Art. 24 Abs. 2 S. 1 BRK verpflichtet zur Gewährleistung eines inklusiven
Schulsystems. In gestuften Schulsystemen bezieht sich die Inklusionsverpflichtung auch auf alle Schularten. Dem Abkommen lässt sich keine Verpflichtung
auf ein bestimmtes Schulsystem entnehmen.
4. Das Inklusionskonzept der Behindertenrechtskonvention ist vom Integrationskonzept zu unterscheiden. Während eine integrative Erziehung vorrangig eine
Anpassungsleistung von Schülern mit Behinderungen an die bestehenden
Schulstrukturen verlangt, setzt die vom Abkommen geforderte inklusive Erziehung auch eine Anpassung des allgemeinen Schulwesens an die Bedürfnisse
von Schülern mit Behinderungen voraus. Der in der amtlichen deutschen Übersetzung in Art. 24 Abs. 2 S. 1 BRK verwendete Begriff „integratives Bildungssystem“ ist entsprechend dem verbindlichen englischen Wortlaut im Sinn eines
„inklusiven Bildungssystems“ zu verstehen.
5. Die Umsetzung des Inklusionskonzepts setzt einen lernzieldifferenzierten Unterricht voraus. Ohne ihn wäre das vom Abkommen erwartete Inklusionsziel
von 80 bis 90 % der Schüler mit Behinderungen nicht zu erreichen. Die Existenz von Förderschulen mit einem Schulangebot für die nicht integrierbaren
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Schüler mit Behinderungen ist durch das Inklusionsziel des Abkommens nicht
ausgeschlossen.
6. Das in Art. 24 Abs. 2 lit. a und lit. b BRK geforderte Grundschulangebot ist unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Neben einem Schulgeld können auch indirekte Kosten – etwa für besondere Lernhilfen von Schülern mit Behinderungen
– gegen das Gebot der Unentgeltlichkeit verstoßen, wenn sie eine soziale Ausschlusswirkung entfalten. Bei der Beurteilung der Exklusionswirkung sind neben den allgemeinen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen auch alle Sozialleistungen zu berücksichtigen.
7. Unter die Verpflichtung zur individuellen Unterstützung in Art. 24 Abs. 2 lit. c,
d und e BRK fallen auch Ausgleichsmaßnahmen bei schulischen Prüfungen.
8. Die Verpflichtung zu einem inklusiven Schulangebot kann im Einzelfall eingeschränkt sein, soweit es dem Kindeswohl dient (Art. 7 Abs. 2 BRK) oder sich
das Recht auf Bildung der Schüler ohne Behinderungen trotz aller zumutbaren
Unterstützungsmaßnahmen sonst nicht verwirklichen lässt. Keine Beschränkung
ergibt sich aus den Kosten für die Unterhaltung eines inklusiven Schulsystems,
die nach den dem Abkommen zugrunde liegenden Annahmen jedenfalls langfristig niedriger ausfallen als die Unterhaltung eines dualen Systems von Regelund Förderschulen.
9. Die Verpflichtung aus dem Recht auf Bildung sind gemäß Art. 4 Abs. 2 BRK
schrittweise, aber unter Aufbringung aller zumutbaren Mittel unverzüglich zu
realisieren.
10. Das Behindertenrechtsabkommen lässt offen, ob die staatliche Schulaufsicht
oder die Eltern befugt sind, über den Bildungsgang der Schüler zu entscheiden.
11. Die Durchführung und Überwachung der schulrechtlichen Verpflichtungen der
Behindertenrechtskonvention erfolgt auf internationaler Ebene durch den Behindertenrechtsausschuss (Art. 34 BRK). Der Behindertenrechtsausschuss übernimmt die folgenden Aufgaben: Überprüfung der von den Staaten eingereichten
periodischen Berichte (Art. 35 bis Art. 37 BRK), Beratung über individuelle
Beschwerden (Art. 1 bis Art. 5 FakPr), Durchführung von Untersuchungen
(Art. 6 f. FakPr), Formulierung allgemeiner Bemerkungen und Empfehlungen
(Art. 39 BRK). Die Behindertenrechtskonvention ist das erste völkerrechtliche
Abkommen über soziale und kulturelle Rechte, das dem Einzelnen erlaubt, mit
einer völkerrechtlichen Individualbeschwerde gegen Verletzungen durch die
Vertragsstaaten vorzugehen (Art. 1 FakPr).
12. Zur Durchführung und Überwachung der Behindertenrechtskonvention auf nationaler Ebene verpflichtet das Abkommen die Vertragsstaaten zur Einrichtung
von Anlaufstellen sowie staatlichen und unabhängigen Koordinierungsmechanismen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft (Art. 33 BRK).
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Zum 2. Teil: Die innerstaatliche Umsetzung der Behindertenrechtskonvention
1. Die Rechtslage in den Ländern stellt sich sehr differenziert dar. Dennoch lassen
sich einige wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen. In den
allermeisten Ländern ist mittlerweile vorgesehen, dass der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung Vorrang haben soll. Die einzige
Ausnahme stellt insofern Baden-Württemberg dar, wo die Vorschriften derzeit
noch darauf hindeuten, dass der gemeinsame Unterricht eine Ausnahme von der
Regel darstellen soll. In diesem Land und in Thüringen ist auch kein zieldifferenter Unterricht in den allgemeinen Schulen vorgesehen, so dass insbesondere
Schüler mit Lernbehinderungen nur im Rahmen von Schulversuchen am integrativen Unterricht teilnehmen können. In den meisten anderen Ländern ist ein
solcher zieldifferenter Unterricht demgegenüber möglich, wobei die entsprechenden Angebote in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen
allerdings ausdrücklich auf die Grundschulen beschränkt sind.
2. In vielen Bundesländern wird das Regel-Ausnahme-Verhältnis dadurch wieder
aufgehoben, dass integrativer Unterricht nur dann möglich ist, wenn die entsprechenden Kapazitäten vorhanden sind. In den meisten Ländern reichen die
vorhandenen Kapazitäten derzeit nicht aus, um allen Schülern, die mit entsprechender sonderpädagogischer Förderung am Unterricht der allgemeinen Schulen teilnehmen könnten, den Zugang zu diesem Unterricht tatsächlich zu ermöglichen. Ein umfassendes, den programmatischen Vorgaben der Behindertenrechtskonvention genügendes, inklusives Unterrichtsangebot ist in der Bundesrepublik derzeit noch die Ausnahme. Nur in Berlin, Brandenburg, Bremen, dem
Saarland und seit relativ kurzer Zeit auch in Sachsen-Anhalt ist nicht vorgesehen, dass einem Schüler die Aufnahme in den integrativen Unterricht alleine
aufgrund fehlender Kapazitäten verweigert werden kann – was nicht ausschließt, dass einem Schüler die Zulassung zu einer ganz bestimmten Schule im
Einzelfall verweigert werden kann.
3. An der Entscheidung über den Zugang zum integrativen Unterricht wirken stets
die Erziehungsberechtigten und die Schulaufsichtsbehörden mit. Ein Rechtsanspruch auf Zulassung besteht in Bayern, Berlin, Bremen, dem Saarland und
Sachsen-Anhalt. In diesen Ländern müssen die Behörden daher gegebenenfalls
darlegen, dass und warum es im Einzelfall ausgeschlossen ist, einem Antrag des
Schülers bzw. seiner Eltern Folge zu leisten. In den übrigen Ländern müssen
demgegenüber der Schüler oder seine Eltern darlegen, dass die Kapazitäten
doch ausreichen.
4. In fast allen Ländern gibt es Regelungen über den Nachteilsausgleich bei Prüfungen und Leistungsbewertungen. In den meisten Ländern sind gegebenenfalls
sonderpädagogisch geschulte Fachkräfte an den entsprechenden Entscheidungen
zu beteiligen. In Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen entscheiden hingegen
die Schulleiter bzw. die Prüfungsgremien.
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References
Zusammenfassung
Das Recht auf Bildung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Abhandlung untersucht den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Bildung aus Art. 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und untersucht die Frage, ob und inwieweit die Schulsysteme der deutschen Länder den Vorgaben dieser Konvention genügen. Die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Behindertenrechtskonvention beschränkt sich nicht darauf, allgemein die Menschenrechte zu bekräftigen, die auch in anderen Menschenrechtsabkommen gewährleistet sind. Vielmehr garantiert sie für Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf Inklusion in das öffentliche Leben im Allgemeinen wie in das Bildungssystem im Besonderen, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist.