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M. Sachsen
1. Die Landesverfassung
Die Verfassung des Freistaates Sachsen enthält keine mit Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vergleichbare Bestimmung. Zwar bekennt sich das Land in Art. 7 Abs. 2 der Verfassung ausdrücklich zur Verpflichtung der Gemeinschaft, behinderte Menschen zu unterstützen und auf die Gleichwertigkeit ihrer Lebensbedingungen hinzuwirken. Hieraus ergeben sich jedoch keine Leistungsansprüche.
2. Das Schulgesetz und die einschlägigen Ausführungsbestimmungen
Nach § 13 Abs. 1 SächsSchG werden Schüler, die wegen der Beeinträchtigung einer
oder mehrerer physischer oder psychischer Funktionen auch durch besondere Hilfen
in den anderen allgemein bildenden Schulen nicht oder nicht hinreichend integriert
werden können und deshalb über einen längeren Zeitraum einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, in den Förderschulen unterrichtet.236
§ 13 Abs. 1 SächsSchG verlangt nicht, dass die betroffenen Schüler in der Lage
sein müssen, die Bildungsziele der jeweiligen Schulen zu erreichen. Vielmehr impliziert der vom Gesetzgeber verwendete Begriff der „Integration“, dass es vor allem
auf die soziale Einbindung ankommen soll. Damit ist sowohl ein zielgleicher als
auch ein zieldifferenter Unterricht möglich.
Diesem Umstand kommt auch für die Auslegung des § 30 Abs. 1 S. 1 SächsSchG
entscheidende Bedeutung zu, in dem die Förderschulpflicht geregelt wurde. Nach
dem Wortlaut dieser Bestimmung sind Schulpflichtige, die über eine längere Zeit
einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, für die Dauer ihrer Beeinträchtigung zum Besuch der für sie geeigneten Förderschule verpflichtet. Wenn der Gesetzgeber im Zusammenhang mit dem Begriff der „sonderpädagogischen Förderung“ ausdrücklich auf § 13 Abs. 1 S. 1 SächsSchG verwiesen hat, so wird deutlich,
dass es für die Zuweisung zu einer Förderschule nicht darauf ankommt, ob ein Schüler aufgrund seiner Behinderung überhaupt der sonderpädagogischen Förderung bedarf, sondern vielmehr darauf, ob er trotz dieser Förderung nicht in die allgemeinen
Schulen integriert werden kann.237
236 Vgl. Schulgesetz für den Freistaat Sachsen (SächsSchG) in der Fassung der Bekanntmachung
vom 16.7.2004, SächsGVBl. S. 52, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 15.12.2006,
SächsGVBl S. 515, 518.
237 In der Kommentierung des § 13 SächsSchG durch L. Niebes/B. Becher/A. Pollmann (Schulgesetz im Freistaat Sachsen, 4. Auflage, Stuttgart et al. 2004, Rdnr. 3 zu § 13 SächsSchG) ist
davon die Rede, dass Schüler mit Behinderungen auch dann nicht „hinreichend gefördert“
werden könnten, wenn die notwendigen besonderen Hilfen nicht finanzierbar sind. Der
Grundsatz der Chancengleichheit gebiete keine Integration um jeden Preis. Diese Aussage
spiegelt sich im Wortlaut des § 13 SächsSchG allerdings nicht wider. Zumindest ist ein sehr
strenger Maßstab anzulegen und einem Schüler mit Behinderungen darf der Zugang zur Re-
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Die Entscheidung über die Zuweisung zu einer Förderschule liegt nach § 30
Abs. 2 SächsSchG beim jeweiligen Regionalschulamt. Dieses muss die Eltern anhören, kann aber auch gegen deren Willen entscheiden – sofern der Schüler nicht in
einer Förderschule mit Heim untergebracht werden soll. Grundlage der Entscheidung sind die Stellungnahmen der Schule und der Eltern, die gegebenenfalls durch
die Ergebnisse einer pädagogisch-psychologischen Prüfung oder einer amtsärztlichen Untersuchung ergänzt werden.
In § 35a Abs. 1 SächsSchG findet sich eine Bestimmung, die zwar nicht nur
Schüler mit Behinderungen betrifft, der jedoch auch für den integrativen Unterricht
entscheidende Bedeutung zukommt. Danach orientieren sich die Ausgestaltung des
Unterrichts und anderer schulischer Veranstaltungen an den individuellen Lern- und
Entwicklungsvoraussetzungen der Schüler, wobei ausdrücklich betont wird, dass
Teilleistungsschwächen Rechnung zu tragen ist.
Die Vorgaben des Schulgesetzes werden durch Rechtsverordnungen weiter konkretisiert. Besondere Bedeutung kommt insofern der im Jahre 2004 erlassenen Integrationsverordnung zu. Nach § 2 Abs. 1 dieser Verordnung können Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf zusammen mit nichtbehinderten Schülern in den
allgemeinen Schulen unterrichtet werden, wenn und solange gewährleistet ist, dass
sie in dieser Schule die erforderliche besondere Förderung erhalten.238
Allerdings kommt es für die Zulassung zum integrativen Unterricht nicht nur auf
die Wünsche des Schülers oder seiner Eltern an. Zunächst muss festgestellt werden,
ob ein Schüler überhaupt der sonderpädagogischen Förderung bedarf. Das entsprechende Verfahren ist in § 13 der Schulordnung für die Förderschulen geregelt. Es
wird durch das Regionalschulamt eingeleitet, wenn Anhaltspunkte einen sonderpädagogischen Förderbedarf vermuten lassen.239
Für die Ermittlung des Förderbedarfs sind in erster Linie die Förderschulen zuständig, die auf die Angaben der Eltern, förderdiagnostische Verfahren sowie ärztliche und (schul-)psychologische Gutachten zurückgreifen können. Weiterhin wird
ein Förderausschuss gebildet, dem auch mindestens ein Elternteil und möglichst
auch der betroffene Schüler selbst angehören. Nachdem die Förderschule ein förderpädagogisches Gutachten erstellt hat, das den sonderpädagogischen Förderbedarf
und die Fördervorschläge benennt sowie Empfehlungen zum weiteren Bildungsgang
und Förderschwerpunkt oder zu einer integrativen Maßnahme nach der Schulintegrationsverordnung gibt, liegt die Entscheidung beim Regionalschulamt, das auch eine Empfehlung in Bezug auf die zu besuchende Schule aussprechen kann.
Tatsächlich kommt dieser Empfehlung eine starke Bindungswirkung zu, da § 2
Abs. 2 SächsSchIVO vorsieht, dass die Entscheidung über die Zulassung zum integelschule allenfalls dann verwehrt werden, wenn seine Teilnahme am Unterricht unverhältnismäßig hohe Mehraufwendungen nach sich ziehen würde.
238 Vgl. die Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über die integrative Unterrichtung von Schülern in öffentlichen Schulen im Freistaat Sachsen (Schulintegrationsverordnung – SchIVO) vom 3.8.2004, SächsGVBl. S. 416.
239 Vgl. die Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über Förderschulen im
Freistaat Sachsen (Schulordnung Förderschulen – SOFS) vom 3.8.2004.
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grativen Unterricht der allgemeinen Schulen wiederum durch das Regionalschulamt
ergeht. Dieses muss zwar die Eltern anhören, wird aber nur ausnahmsweise von seiner zuvor ausgesprochenen Empfehlung abrücken.
Das Regionalschulamt darf die Genehmigung zum Besuch des integrativen Unterrichts nach § 4 SächsSchIVO nur dann erteilen, wenn die erforderlichen Lehrkräfte,
die erforderlichen Betreuungs- oder Pflegekräfte sowie Hilfsmittel bereitstehen und
die betreffende Schule behindertengerecht eingerichtet und ausgestattet ist. Im Zweifel reicht die Zusage der Kostenträger aus, dass spätestens zu Beginn der integrativen Unterrichtung die Voraussetzungen erfüllt sein werden. Letzten Endes kommt
damit wiederum der Zahlungsbereitschaft der Schulträger entscheidende Bedeutung
zu – wobei sich der Freistaat allerdings mit bis zu 65 % an den Kosten beteiligt.240
Im Rahmen seiner Entscheidung hat das Regionalschulamt gemäß § 2 Abs. 3
SächsSchIVO auch darüber zu befinden, in welchem zusätzlichen zeitlichen Umfang
die für die integrative Unterrichtung benötigten Lehrkräfte eingesetzt werden. Als
Obergrenze wurden dabei fünf Lehrerwochenstunden je Schüler festgeschrieben,
wobei die Zuweisung – selbstverständlich – nur im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel möglich ist. Es besteht also keine Verpflichtung zum Ausbau der Kapazitäten für die sonderpädagogische Förderung.
Als Formen des integrativen Unterrichts nennen § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SächsSchIVO zunächst die vollständige Integration in eine Klasse einer allgemeinen Schule. Dabei besteht entweder die Möglichkeit, dass sich die in der Klasse unterrichtenden Lehrkräfte regelmäßig mit einer Lehrkraft des jeweiligen Förderschwerpunktes
zu beraten haben oder dass eine zusätzliche Lehrkraft den oder die Schüler im Klassenunterricht oder in einem gesonderten Förderunterricht fördert. Die Klassenstärke
soll dabei 25 Schüler nicht überschreiten.
Neben der vollständigen Integration nennt § 3 Abs. 1 Nr. 3 SächsSchIVO die besuchsweise Teilnahme von Schülern der Förderschulen am Unterricht der allgemeinen Schulen. Nr. 4 der genannten Bestimmung sieht die Bildung von Außenklassen
vor.
Obwohl das Schulgesetz dies nicht ausdrücklich vorsieht, ist in Sachsen nur an
den Grundschulen ein zieldifferenter Unterricht möglich. Nach § 5 Abs. 1 S. 2
SächsSchIVO werden die Schüler aller anderen Schularten nach den entsprechenden
Lehrplänen der jeweiligen Schulart unterrichtet.
Die Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die im Rahmen von
Einzelintegrationsmaßnahmen – also nicht in Außenklassen der Förderschulen – an
allgemeinen Schulen unterrichtet wurde, ist stetig angestiegen: von 736 Schüler im
240 Vgl. dazu die Förderrichtlinie des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über die Gewährung einer Zuwendung für besondere Maßnahmen zur Integration von behinderten und
von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen in allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen im Freistaat Sachsen, Az.: 33-6411.70/228, vom 18.2.2003, geändert durch
die Bekanntmachung vom 29.4.2003, SächsABl, S. 535.
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Schuljahr 1998/99 auf 2.363 Schüler im Schuljahr 2005/2006. Deutlich mehr als die
Hälfte dieser Schüler besuchte eine Grundschule.241
In Bezug auf den Nachteilsausgleich bei schulischen Leistungsbewertungen
kommt neben dem bereits erwähnten § 35a Abs. 1 SächsSchG zunächst § 6 SächsSchIVO Bedeutung zu. Nach dessen Abs. 1 gelten für Schüler, die am zielgleichen
Unterricht der allgemeinen Schulen teilnehmen, in Bezug auf die Ermittlung und
Bewertung von Leistungen, Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung, Versetzung,
Wiederholung und Zeugnisse die Vorschriften der jeweiligen Schulart. Beim zieldifferenten Unterricht greifen die Vorgaben für die entsprechende Förderschule ein,
wobei dies durch einen entsprechenden Hinweis im Zeugnis zu dokumentieren ist.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass beim zielgleichen Unterricht kein Nachteilsausgleich vorgesehen wäre. Vielmehr sind die Vorgaben der entsprechenden Prüfungsordnungen zu beachten. So hat der Prüfungsausschuss nach § 30 Abs. 2 Nr. 8 der
Oberstufen- und Abiturprüfungsverordnung unter anderem die Aufgabe, unter Berücksichtigung der jeweiligen Beeinträchtigung eines Schülers, der am integrativen
Unterricht teilnimmt, über die zugelassenen Hilfsmittel und die Art und Weise der
Durchführung der Prüfung zu entscheiden.242
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rechtslage im Freistaat Sachsen
den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention mittlerweile bedingt entspricht. Zwar bedürfen Schüler mit Behinderungen für die Zulassung zum integrativen Unterricht an den allgemeinen Schulen im Ergebnis einer Genehmigung durch
die Schulbehörden, die wiederum nur dann erteilt wird, wenn zuvor durch die Schulträger die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen wurden. Dennoch hängt die
Zulassung zum integrativen Unterricht nicht nur von der Bereitschaft der Schulträger ab, eventuelle Mehraufwendungen freiwillig zu tragen, da das Land einen gro-
ßen Teil des Aufwandes übernimmt und damit die Bereitschaft der Schulträger erhöht, die integrativen Unterrichtsangebote auszuweiten.
Um den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention Genüge zu tun, müsste
auch an den weiterführenden Schulen ein zieldifferenter Unterricht ermöglicht werden. Erst dann könnte davon die Rede sein, dass dem Inklusionsgebot der Behindertenrechtskonvention auch in Sachsen Rechnung getragen wird.
241 Vgl. die Angaben in der Antwort des Kultusministeriums auf eine Anfrage des Abgeordneten
Schneider (CDU), SächsLT-Drs. 4/5754.
242 Vgl. die Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über die gymnasiale Oberstufe und die Abiturprüfung an allgemeinbildenden Gymnasien im Freistaat Sachsen (Oberstufen- und Abiturprüfungsverordnung – OAVO) vom 15.1.1996 (rechtsbereinigt mit
Stand vom 1.8.2005).
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N. Sachsen-Anhalt
1. Die Landesverfassung
Nach Art. 38 der Landesverfassung stehen unter anderem Menschen mit Behinderung unter dem besonderen Schutz des Landes. Da das Land explizit verpflichtet
wurde, ihre gleichwertige Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu fördern, geht
die Landesverfassung über die Vorgaben des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG hinaus. Leistungsansprüche lassen sich der Landesverfassung jedoch nicht entnehmen.
2. Das Schulgesetz und die einschlägigen Ausführungsbestimmungen
Für den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderungen kommt
zunächst § 1 Abs. 3 S. 3 des Schulgesetzes entscheidende Bedeutung zu, nach dem
die Integration von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allen Schulformen gefördert werden soll, um auf diese Weise zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit beizutragen.243
Nach § 8 Abs. 2 LSA-SchG sollen (nur solche) Schüler, die wegen der Beeinträchtigung einer oder mehrerer Funktionen auch durch besondere Hilfen in den anderen Schulformen nicht ausreichend gefördert werden können und deshalb für längere Zeit einer besonderen pädagogischen Förderung bedürfen, Förderschulen besuchen. Diese Formulierung impliziert einen Vorrang des integrativen Unterrichts an
den allgemeinen Schulen.
Diese Grundsätze werden im Zusammenhang mit den Regelungen und Konkretisierungen des Rechts auf Bildung in den §§ 33 ff. LSA-SchG bestätigt. In § 33
Abs. 1 LSA-SchG wird zunächst klargestellt, dass das Land Sachsen-Anhalt das
Schulwesen so gestaltet, dass die Schüler ihr Recht auf Bildung möglichst umfassend verwirklichen können. Dabei wird ausdrücklich betont, dass unterschiedlichen
Bildungschancen und Begabungen durch besondere Förderung der betreffenden
Schüler entsprochen werden soll.
Ebenso wie § 33 Abs. 1 LSA-SchG den allgemeinen Grundsatz des § 1 Abs. 3
S. 3 LSA-SchG widerspiegelt, korrespondiert § 39 LSA-SchG mit § 8 Abs. 2 LSA-
SchG: Hier wird nochmals bestätigt, dass Schüler, die einer sonderpädagogischen
Förderung bedürfen, nur dann zum Besuch einer für sie geeigneten Förderschule oder des für sie geeigneten Sonderunterrichts verpflichtet sind, wenn die entsprechende Förderung nicht in einer allgemeinen Schule erfolgen kann. Die Entscheidung haben allerdings auch in Sachsen-Anhalt nicht die Schüler selbst oder ihre Eltern zu treffen, sondern wiederum die Schulbehörden, die sich dabei auf die Ergebnisse eines Feststellungsverfahrens stützen. Sie haben die Erziehungsberechtigten
243 Vgl. das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (LSA-SchG) in der Fassung vom 27.8.1996,
zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.1.2005, LSA-GVBl. S. 46.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Recht auf Bildung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Abhandlung untersucht den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Bildung aus Art. 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und untersucht die Frage, ob und inwieweit die Schulsysteme der deutschen Länder den Vorgaben dieser Konvention genügen. Die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Behindertenrechtskonvention beschränkt sich nicht darauf, allgemein die Menschenrechte zu bekräftigen, die auch in anderen Menschenrechtsabkommen gewährleistet sind. Vielmehr garantiert sie für Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf Inklusion in das öffentliche Leben im Allgemeinen wie in das Bildungssystem im Besonderen, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist.