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Schulen des Landes derzeit kein zieldifferenter Unterricht für Schüler mit Behinderungen statt. An den Schulen des Landes findet daher derzeit kein „inklusiver Unterricht“ von Schülern mit und ohne Behinderungen im Sinne der Behindertenrechtskonvention statt. Selbst die Bildung von Außenklassen der Sonderschulen ist nur
unter engen Voraussetzungen möglich. Auch fehlen klare Regelungen über einen
Nachteilsausgleich, mit dem es Schülern mit Behinderungen ermöglicht werden
kann, die Ziele der allgemeinen Schule zu erreichen. Es liegt somit in erster Linie
bei den Betroffenen, einen solchen Nachteilsausgleich einzufordern. Damit genügt
die Rechtslage in Baden-Württemberg den Anforderungen der Behindertenrechtskonvention derzeit nur ansatzweise.
Ein Verstoß gegen die Vorgaben der Konvention träte allerdings nur dann ein,
wenn das Land in Zukunft keine Schritte unternehmen würde, die Integration von
Schülern mit Behinderungen zu verbessern. Um den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu genügen, die sich aus der Ratifikation der Behindertenrechtskonvention
ergeben, könnte der Landesgesetzgeber zunächst eine Rechtsgrundlage für einen
zieldifferenten Unterricht an den allgemeinen Schulen sowie einen Nachteilsausgleich zu Gunsten von Schülern mit Behinderungen bei schulischen Prüfungen
schaffen. Darüber hinaus könnten die Schüler der Sonderschul-Außenklassen allmählich in die Regelklassen der allgemeinen Schulen integriert werden.171
B. Bayern
1. Die Landesverfassung
Mit Wirkung vom 1. März 1998 wurde der folgende Art. 118a in die bayerische
Landesverfassung eingefügt:
„Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Der Staat setzt sich für
gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung ein.“172
Diese Bestimmung entspricht weitgehend der Vorgabe des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG,
geht allerdings insofern über diese Vorgabe hinaus, als der Gleichstellungsauftrag
des Staates explizit in der Verfassung verankert wurde. Allerdings ergibt sich aus
171 Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Anteil von Schülern mit sonderpädagogischem
Förderbedarf, die am Unterricht der allgemeinen Schulen teilnehmen, in Baden-Württemberg
deutlich höher zu liegen scheinen als in den meisten anderen Bundesländern: Im Jahr 2003
wurden von 72.956 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf immerhin 18.729 an
allgemeinen Schulen unterrichtet, das entspricht einem Anteil von mehr als 25,7 %, der damit
fast doppelt so hoch wäre, wie der Bundesdurchschnitt, vgl. dazu die Angaben in der KMK-
Dokumentation Nr. 185 vom April 2008 (die Zahlen beruhen auf eigenen Berechnungen auf
Grundlage der KMK-Daten). Zwar hat das Kultusministerium des Landes bisher keine entsprechenden Daten veröffentlicht. Es spricht aber einiges dafür, dass bei den Zahlen, die der
KMK weitergegeben werden, auch Schüler erfasst werden, die lediglich an Begegnungsprogrammen zwischen allgemeinen und Sonderschulen teilgenommen haben.
172 Vgl. das Gesetz vom 20.2.1998, BayGVBl. S. 38.
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Art. 118a S. 2 BayV weder ein Rechtsanspruch auf Förderung noch eine objektive
Verpflichtung des Staates, die Förderangebote zugunsten behinderter Menschen
auszuweiten.
2. Das Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen und die einschlägigen
Ausführungsbestimmungen
Gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 2 BayEUG ist „die sonderpädagogische Förderung körperlich behinderter Schüler im Rahmen der Möglichkeiten Aufgabe aller Schulen“.173
Nach Art. 41 Abs. 1 S. 1 BayEUG haben nur solche Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die am gemeinsamen Unterricht in der allgemeinen
Schule nicht aktiv teilnehmen können oder deren sonderpädagogischer Förderbedarf
an der allgemeinen Schule auch mit Unterstützung durch die sogenannten Mobilen
Sonderpädagogischen Dienste nicht oder nicht hinreichend erfüllt werden kann, eine
für sie geeignete Förderschule zu besuchen. In S. 2 der genannten Bestimmung wird
der Begriff der „aktiven Teilnahme“ folgendermaßen definiert:
„Eine Schülerin oder ein Schüler kann aktiv am gemeinsamen Unterricht der allgemeinen
Schule teilnehmen, wenn sie oder er dort, gegebenenfalls unterstützt durch Maßnahmen des
Art. 21 Abs. 3, überwiegend in der Klassengemeinschaft unterrichtet werden, den verschiedenen Unterrichtsformen der allgemeinen Schule folgen und dabei schulische Fortschritte erzielen kann sowie gemeinschaftsfähig ist.“
Aus dieser Definition ergibt sich, dass für Schüler mit Behinderungen gegebenenfalls ein zieldifferenter Unterricht gewährleistet werden muss, da es nicht darauf ankommt, ob die Schüler in der Lage sind, die allgemeinen Bildungsziele zu erreichen.
Allerdings ist festzuhalten, dass Schüler mit Behinderungen aus Art. 41 Abs. 1 Bay-
EUG keinen unbedingten Anspruch auf Zulassung zum Unterricht der allgemeinen
Schulen herleiten können. Zwar wird mit dieser Bestimmung mittelbar ein Zulassungsanspruch für solche Schüler mit Behinderungen begründet, die aktiv am gemeinsamen Unterricht teilnehmen können, da diese Schüler nicht dazu verpflichtet
werden können, eine Förderschule zu besuchen. Dieser Anspruch hängt aber nicht
nur vom individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf des Schülers ab, sondern
auch von den Kapazitäten der sogenannten Mobilen Sonderpädagogischen Dienste.
Gemäß Art. 41 Abs. 3 BayEUG ist die Überweisung an eine Förderschule nur auf
Grund eines sonderpädagogischen Gutachtens zulässig. Die Erziehungsberechtigten
sind rechtzeitig über Zeitpunkt, Art und Umfang der Begutachtung zu informieren
und sie müssen im Rahmen des Verfahrens auch angehört werden. Gegebenenfalls
können auch ärztliche oder schulpsychologische Gutachten sowie Empfehlungen des
Kindergartens einbezogen werden. Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, die
Einrichtung einer überörtlichen, unabhängigen Fachkommission zu verlangen, deren
173 Vgl. das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der
Fassung der Bekanntmachung vom 31.5.2000, BayGVBl. S. 414, zuletzt geändert durch
Art. 10 des Gesetzes vom 20.12.2007, BayGVBl. S. 919.
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Votum vom zuständigen Staatlichen Schulamt in seiner Entscheidung gewürdigt
werden muss.
In Art. 21 BayEUG ist geregelt, dass die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste
die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf beim Besuch einer allgemeinen
Schule unterstützen sollen. Sie werden von der jeweils nächstgelegenen Sonderschule mit einem entsprechenden Förderschwerpunkt geleistet, sie diagnostizieren und
fördern die Schüler, beraten Lehrkräfte, Erziehungsberechtigte und Schüler, koordinieren sonderpädagogische Förderung und führen Fortbildungen für Lehrkräfte
durch.
Im Hinblick auf den integrativen Unterricht ist nun aber zu beachten, dass der
Gesamtaufwand für die sonderpädagogische Betreuung an einer allgemeinen Schule
nach Art. 21 Abs. 3 BayEUG nicht höher sein soll als der Aufwand, der beim Besuch einer Sonderschule entstehen würde. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die
Leistungen der Eingliederungshilfe nach den SGB VIII und XII nicht in die Vergleichsrechnung einbezogen werden dürfen, ist doch zu beachten, dass sich auch aus
dem BayEUG keine Verpflichtung des Staates ergibt, die Kapazitäten für die sonderpädagogische Förderung behinderter Schüler auszuweiten.174
Art. 30 Abs. 1 BayEUG regelt die Zusammenarbeit zwischen Förderschulen und
allgemeinen Schulen. In dieser Bestimmung ist insbesondere vorgesehen, dass mit
Zustimmung der beteiligten Schulaufwandsträger Außenklassen von allgemeinen
Schulen an Förderschulen und von Förderschulen an allgemeinen Schulen sowie
Kooperationsklassen an Volksschulen gebildet werden. Die Erziehungsberechtigten
behinderter Kinder haben die Möglichkeit die Einrichtung einer Außenklasse zu beantragen. Einem solchen Antrag soll stattgegeben werden, wenn dies organisatorisch, personell und sachlich ermöglicht werden kann.
In Art. 3 Abs. 5 BaySchFinG ist ausdrücklich festgeschrieben, dass zum Schulaufwand der allgemeinen Schulen auch die Aufwendungen für die Schüler mit Behinderungen sowie für die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gehören,
die dort nach Maßgabe des Art. 41 BayEUG unterrichtet und gefördert werden können. Zum Schulaufwand gehören weiterhin die Aufwendungen für den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf nach
Art. 30 Abs. 1 S. 3 BayEUG an den allgemeinen Schulen und die Aufwendungen für
Schüler in Außenklassen nach Art. 30 Abs. 1 S. 4. Die Schulträger können daher insofern nicht auf die Leistungen der Sozialhilfe verweisen.
Zum Stichtag 1. Januar 2005 besuchten in Bayern 17.230 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemeine Schulen, die meisten davon Grund- und
174 Allerdings müssen die Schulaufsichtsbehörden gegebenenfalls belegen, dass der Aufwand für
die sonderpädagogische Betreuung eines Schülers mit Behinderungen an einer allgemeinen
Schule mit hinreichender Sicherheit höher ausfüllen würde als die mit dem Besuch einer Förderschule verbundenen Kosten.
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Hauptschulen. Es gab 341 Kooperationsklassen und 146 Außenklassen der Förderschulen.175
In Bayern finden sich umfangreiche Regelungen über den Nachteilsausgleich zugunsten behinderter Schüler. Derzeit wird über einen Entwurf für eine reformierte
Volksschulordnung diskutiert, die an sich schon zum Beginn des Schuljahres
2007/2008 in Kraft treten sollte. In § 45 dieser Ordnung soll folgende Bestimmung
aufgenommen werden:
„(1) Bei Leistungsnachweisen sowie bei Abschlussprüfungen kann die Bearbeitungszeit für
Schülerinnen und Schüler mit besonders ausgewiesenem sonderpädagogischem Förderbedarf
oder mit Behinderungen um bis zu 50 v. H. der vorgesehenen Zeit verlängert werden.
(2) Soweit im Einzelfall erforderlich können spezielle Hilfen zugelassen oder Alternativaufgaben gestellt werden, die im Anforderungsniveau gleichwertig sind und von der Schülerin oder
dem Schüler unter Berücksichtigung des sonderpädagogischen Förderbedarfs oder der Behinderung bearbeitet werden können.
(3) Die Entscheidung über die Verlängerung und die Zulassung erforderlicher spezieller Hilfen
trifft die Klassenleiterin oder der Klassenleiter bzw. die für die Prüfung eingesetzte Kommission.
(4) Soweit für die Schülerin oder den Schüler Mobile Sonderpädagogische Dienste eingesetzt
sind, sind diese an der Entscheidung zu beteiligen; im Übrigen kann eine Stellungnahme einer
Förderschule mit entsprechendem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt eingeholt werden.“
Es ist allerdings derzeit nicht absehbar, ob und wann dieser Entwurf realisiert
wird.
Für Realschulen, Gymnasien und berufliche Schulen finden sich zwar keine vergleichbaren Regelungen in den Schulordnungen. Allerdings sind für diese Schularten die entsprechenden internen Vorgaben des Kultusministeriums und der Schulaufsichtsbehörden zu beachten.176
Trotz einiger Abgrenzungsprobleme (etwa der Unterscheidung zwischen Legasthenie und einer Lern- und Rechtschreibschwäche) lässt sich damit festhalten, dass
Schülern mit Behinderungen in Bayern in sämtlichen Schularten und Klassenstufen
die Möglichkeit eines Nachteilsausgleichs eröffnet wird, um ihnen die Teilnahme
am Unterricht der allgemeinen Schulen und den Abschluss der dort angebotenen
Bildungsgänge zu ermöglichen.177
175 Vgl. dazu die Antwort der bayerischen Staatsregierung auf eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten Närnhammer, BayLT-Drs. 15/5625.
176 Vgl. etwa den Erlass zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens vom 16.11.1999, KWMBl. I S. 379.
Vgl. dazu auch die Schreiben des KM vom 8.12.2006 – VI.8-5 S 5300 –6.108417 (zum Nachteilsausgleich bei Leistungsfeststellungen an Gymnasien); 18.10.2005 – V.2-S 6306.4 –
5.106000 vom 18.10.2005 (zum Nachteilsausgleich für hörgeschädigte Schüler der Realschulen).
177 Auf die Frage, ob sich aus der Landesverfassung ein Rechtsanspruch auf einen Nachteilsausgleich ergibt, muss hier nicht eingegangen werden. Der Verfassungsgerichtshof verneint ei-
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Die Rechtslage in Bayern entspricht damit im Wesentlichen den Vorgaben der
Behindertenrechtskonvention – wobei zu beachten ist, dass Schüler mit Behinderungen im Einzelfall insbesondere wegen der beschränkten Kapazitäten der Mobilen
Sonderpädagogischen Dienste der Zugang zu den allgemeinen Schulen verwehrt
werden kann. Um den Anforderungen der Konvention Genüge zu tun und allen
Schülern mit Behinderungen, die an „inklusiven Unterrichtsangeboten“ im Sinne der
Behindertenrechtskonvention teilnehmen wollen, ein entsprechendes Angebot zur
Verfügung zu stellen, müssten daher die entsprechenden Kapazitäten angepasst werden.
C. Berlin
1. Die Landesverfassung
Art. 10 der im Jahre 1995 in Kraft gesetzten neuen Verfassung von Berlin lautet:
„Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Das Land ist verpflichtet,
für die gleichwertigen Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen.“178
Diese Verpflichtung entspricht wiederum den Vorgaben des Grundgesetzes. Sie
geht allerdings insofern über diese Vorgaben – und auch über die vergleichbaren
Regelungen etwa in Bayern – hinaus, als die VvB eine ausdrückliche Förderpflicht
begründet.
2. Das Schulgesetz und die einschlägigen Ausführungsbestimmungen
Nach § 2 Abs. 1 des Schulgesetzes für Berlin hat jeder junge Mensch ungeachtet einer Behinderung ein Recht auf zukunftsfähige schulische Bildung und Erziehung.179
Nach § 4 Abs. 3 S. 2 BerlSchG soll drohendem Leistungsversagen und anderen
Beeinträchtigungen des Lernens, der sprachlichen, körperlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung mit Maßnahmen der Prävention, der Früherkennung und der
rechtzeitigen Einleitung von zusätzlicher Förderung begegnet werden. In Satz 3 der
genannten Bestimmungen wurde ausdrücklich festgeschrieben, dass die Förderung
nen solchen Anspruch unter Verweis auf den Grundsatz der Chancengleichheit bei Prüfungen, vgl. BayVerfGHE 34, 14, 26, dazu auch R. Stettner in: H. Nawiasky/K. Schweiger/F.
Knöpfle, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Loseblatt, München, Stand 08/2005, Rn. 15
zu Art. 128 BayV.
178 Vgl. die Verfassung von Berlin vom 23.11.1995, BerlGVBl. S. 779, zuletzt geändert durch
Gesetz vom 27.9.2005, BerlGVBl. S. 494.
179 Vgl. das Schulgesetz für das Land Berlin (BerlSchG) vom 26.1.2004, BerlGVBl. S. 26, zuletzt geändert durch Art. V des Gesetzes vom 11.6.2006, BerlGVBl. S. 812.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Recht auf Bildung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Abhandlung untersucht den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Bildung aus Art. 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und untersucht die Frage, ob und inwieweit die Schulsysteme der deutschen Länder den Vorgaben dieser Konvention genügen. Die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Behindertenrechtskonvention beschränkt sich nicht darauf, allgemein die Menschenrechte zu bekräftigen, die auch in anderen Menschenrechtsabkommen gewährleistet sind. Vielmehr garantiert sie für Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf Inklusion in das öffentliche Leben im Allgemeinen wie in das Bildungssystem im Besonderen, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist.