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der Eltern abweichen oder diesen gar nur eine beratende Funktion zugestehen will,
muss dies gesetzlich geregelt sein.155
Dies alles gilt wohlgemerkt unabhängig davon, ob an den Förder- bzw. Sonderschulen dieselben Bildungsabschlüsse erworben werden können wie an den allgemeinen Schulen. Denn die Entscheidung, ob ein Kind mit Behinderungen auf eine
Schule gehen soll, in der es gemeinsam mit anderen Kindern mit Behinderungen
quasi in einem geschützten Raum unterrichtet wird oder ob es eine Schule besucht,
in der es mit Schülern ohne Behinderungen zusammen kommt, steht in einem untrennbaren und sehr engen Zusammenhang mit der Erziehung des Kindes.
C. Zwischenergebnis
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 3
Abs. 3 S. 2 GG in der Ausformung, die es durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erhalten hat, der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention nicht
entgegensteht. Insbesondere erlaubt Art. 3 Abs. 3 S. 2 G auch Ausgleichsmaßnahmen zu Gunsten von Schülern mit Behinderungen, wie sie für ein inklusives Schulsystem, wie es die Behindertenrechtskonvention anstrebt, erforderlich sind. Auch
dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG kann bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention angemessen Rechnung getragen werden.
Soweit das Bundesverfassungsgericht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG einen Anspruch
auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Zulassung von Schülern mit Behinderungen zum Unterricht der allgemeinen Schulen herleitet, der sich unter bestimmten Umständen zu einem Zulassungsanspruch verdichten kann, kommt das Gericht
dem Anliegen der Behindertenrechtskonvention entgegen. Bei der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Gesamtbetrachtung müssen auch die Leistungsansprüche gegenüber den Trägern der Eingliederungshilfe und der gesetzlichen Krankenversicherung mit einbezogen werden, da diese Ansprüche nach der derzeitigen
Rechtslage unabhängig davon bestehen, ob die entsprechenden Aufwendungen auch
dann angefallen wären, wenn der betroffene Schüler eine Förder- bzw. Sonderschule
besucht. Entscheidend ist allein, ob die Schulbehörden des jeweiligen Landes aufgrund der landesrechtlichen Bestimmungen zu dem Ergebnis kommen, dass dem
sonderpädagogischen Förderbedarf eines Schülers mit Behinderungen am besten oder zumindest ebenso gut durch die Teilnahme am integrativen Unterricht der allgemeinen Schule Genüge getan werden kann.
Im Hinblick auf die nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigenden organisatorischen Aspekte und den Schutz der Rechte Dritter kommt der
Ausgestaltung des bestehenden Bildungssystems durch den jeweiligen Landesgesetzgeber und der Antwort auf die Frage entscheidende Bedeutung zu, ob und in-
155 Es stellt keine übermäßige Beschränkung des Elternrechts dar, wenn sich der Staat das Letztentscheidungsrecht vorbehält. Hier gilt nichts anderes als bei anderen Schulwahlentscheidungen.
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wieweit dieser die allgemeinen Schulen für Schüler mit Behinderungen öffnen will.
Dabei ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
keine Pflicht der Landesgesetzgeber herleitet, das bestehende Parallel-System von
allgemeinen und Förder- bzw. Sonderschulen umzustellen.156
Genau an dieser Stelle käme der Behindertenrechtskonvention im Falle ihrer Ratifikation entscheidende Bedeutung zu: Während das Diskriminierungsverbot des
Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG die Länder nur im Rahmen der bestehenden Schulsysteme zur
Integration verpflichtet, ist die Behindertenrechtskonvention unabhängig von den
bestehenden Systemen auf einen Inklusionsgrad von 80-90 % gerichtet. Dabei ist
den Verfassern der Konvention durchaus bewusst, dass sich dieses Ziel unter Umständen nur durch einen Systemwechsel erreichen lässt, der zumindest kurzfristig
mit Mehraufwendungen für die öffentlichen Haushalte verbunden ist. Allerdings
liegt der Konvention die Annahme zugrunde, dass diese Mehraufwendungen nach
dem Ende der Umstellungsphase durch die langfristigen Kostenvorteile eines weitgehend inklusiven Schulsystems kompensiert werden.
IV. Die Rechtslage in den Ländern
Infolge der Aufnahme des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG in die Verfassung hat sich die
Rechtslage in den Ländern deutlich verändert. Bereits am 6. Mai 1994 – also ein
halbes Jahr vor Änderung des Grundgesetzes – hatte die Kultusministerkonferenz
eine „Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“ ausgesprochen, mit der behinderten Kindern der Zugang zu
den allgemeinen Schulen eröffnet werden sollte. Die Entscheidung über den Förderort soll seither nicht mehr defizitorientiert erfolgen, sondern sich nach einem ganzheitlichen Ansatz richten.157
Dementsprechend steht seit 1994 nicht mehr die „Sonderschulbedürftigkeit“ des
Schülers im Mittelpunkt, sondern sein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ bzw. die
Frage, wo und wie dieser Bedarf am besten gedeckt werden kann. Die Feststellung
des individuellen Förderbedarfs sowie die Entscheidung über den Bildungsgang und
den Förderort soll nach den Vorstellungen der KMK in Verantwortung der Schulaufsichtsbehörden stattfinden, die entweder selbst über sonderpädagogische Kompetenz und ausreichende Erfahrungen in der schulischen Förderung Behinderter verfügen oder fachkundige Beratung hinzuziehen müssen (Ziffer 3 der Empfehlung). Die
entsprechenden Entscheidungen dürfen also nur dann den Lehrkräften der allgemeinen Schulen überlassen werden, wenn diese über eine hinreichende sonderpädagogische (Zusatz-)Qualifikation verfügen.158
156 Vgl. dazu BVerfGE 96, 288, 305.
157 Vgl. dazu R. Wagner/D. Kaiser, Einführung in das Behindertenrecht, Berlin 2004, S. 145 ff.
158 Bei alldem ist festzuhalten, dass die Begriffe des sonderpädagogischen Förderbedarfs und der
Behinderung nicht unbedingt vollständig deckungsgleich sind. Es gibt durchaus Schüler mit
Behinderungen, die keinen solchen Förderbedarf haben. Allerdings kommt es insofern auch
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References
Zusammenfassung
Das Recht auf Bildung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Abhandlung untersucht den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Bildung aus Art. 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und untersucht die Frage, ob und inwieweit die Schulsysteme der deutschen Länder den Vorgaben dieser Konvention genügen. Die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Behindertenrechtskonvention beschränkt sich nicht darauf, allgemein die Menschenrechte zu bekräftigen, die auch in anderen Menschenrechtsabkommen gewährleistet sind. Vielmehr garantiert sie für Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf Inklusion in das öffentliche Leben im Allgemeinen wie in das Bildungssystem im Besonderen, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist.