20
II. Regelungsgehalte der Behindertenrechtskonvention
Im Falle der Ratifikation wird der Regelungsgehalt der Behindertenrechtskonvention
bestimmt durch den Anwendungsbereich, den Inhalt der Verpflichtungen, den
Schranken sowie der Durchführung und Überwachung der Verpflichtungen.
A. Anwendungsbereich der Konvention
Der Anwendungsbereich der Behindertenrechtskonvention wird durch den Begriff
der Behinderung sowie den Begriff des Bildungssystems bestimmt.
1. Begriff des Bildungssystems
Die Verpflichtungen der Vertragsstaaten beziehen sich auf das „Bildungssystem“
insgesamt (Abs. 1 S. 2, Abs. 5). Dieser Begriff ist umfassend zu verstehen und umfasst nicht nur Schulen, sondern alle Einrichtungen, die zumindest auch einen Bildungsauftrag haben – vom Kindergarten bis zur postuniversitären Weiterbildung. Im
Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen allerdings die allgemeinbildenden
Schulen. Sie sind auch für das Abkommen zentral. Die Behindertenrechtskonvention
differenziert insoweit zwischen dem „Grundschulunterricht“ und der „Sekundarschulausbildung“ (Abs. 2 lit. a und b). Dem Wortlaut nach unterscheidet Art. 24
BRK nicht zwischen öffentlichen und privaten Schulen, sondern bezieht sich auf das
gesamte Bildungssystem unter Einschluss der privaten Schulen. Neben dem Wortlaut spricht für einen so umfassenden Begriff des Bildungssystems auch der Zweck
des Abkommens, der sonst in Staaten leerlaufen würde, in denen private Schulen
bedeutende Teile des schulischen Bildungsangebots zur Verfügung stellen. Bei der
Beurteilung, ob die Staaten ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen erfüllen, muss
das gesamte schulische Bildungssystem einschließlich der privaten Schulen in die
Betrachtung einbezogen werden.
2. Begriff der Behinderung
Das Abkommen belässt es bei einer Teildefinition des Behindertenbegriffs. Art. 1
Abs. 2 Hs. 1 BRK fasst unter Menschen mit Behinderungen
„Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und
gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“
Zudem erläutert die Präambel in lit. e,
21
„dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung
aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und
umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten
Teilhabe an der Gesellschaft hindern.“.
Aufgeführt sind diejenigen Individuen, die mindestens in den Schutzbereich der
Konvention fallen. Nach dem Abkommen sind Behinderungen ein gesellschaftliches
Phänomen. Es ist gerade auf die soziale Inklusion von Menschen mit Behinderungen
angelegt (s. Art. 1 Abs. 2 BRK). Wesentlich für die soziale Inklusion sind besonders
auch kommunikative Fähigkeiten. Der sozialen Anlage des Behindertenkonzepts der
Behindertenrechtskonvention entsprechend fallen daher Kommunikationsbehinderungen in den Anwendungsbereich des Abkommens. Kommunikationsbehinderungen sind dauerhafte und nicht unerhebliche Schädigungen der Kommunikationsfähigkeit, wie etwa auch Legasthenie.33 Die Vertragsstaaten können die Reichweite
der geschützten Personen erweitern, z.B. Personen mit kurzfristigen Behinderungen
einbeziehen.34 Auf eine abschließende Definition des Behindertenbegriffs haben die
Verfasser des Übereinkommens bewusst verzichtet. Jenseits der Teildefinition überlässt die Behindertenrechtskonvention den Vertragsstaaten die Ausgestaltung. Diese
wird von den abweichenden sozialen Umständen und dem sozialen Wandel beeinflusst.
„The recognition that ‚disability‘ is an evolving concept acknowledges the fact that society and
opinions within society are not static. Consequently, the Convention does not impose a rigid
view of ‚disability‘, but rather assumes a dynamic approach that allows for adaptations over
time and within different socioeconomic settings.“35
Die weite und offene Fassung des Behindertenbegriffs trifft sich mit der Behindertendefinition in den nicht bindenden „UN-Standard Rules of Opportunities for
Persons with Disabilities“, die auf eine Resolution der Generalversammlung der
Vereinten Nationen von 1993 zurückgehen.36 Das Regelwerk definiert in den Paragraphen 17 und 18 die Begriffe „disability“ und „handicap“:
33 Vgl. zur innerstaatlichen Diskussion C. Langenfeld „Maßnahmen des Nachteilsausgleichs
und des besonderen Schutzes für Schüler und Schülerinnen mit Legasthenie an allgemeinbildenden Schulen“; in: Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (Hrsg.), Chancengleichheit herstellen, Diskriminierung vermeiden. Schulische Regelungen für Legastheniker
rechtswidrig!, 2006, S. 25 f.
34 Vgl. UN-Handbook for Parliamentarians, S. 13.
35 UN-Handbook for Parliamentarians, S. 13; s. a. T. Degener, Disability as a Subject of International Human Rights Law and Comparative Discrimination Law, in: S. S. Herr/L. O.
Gostin/H. H. Koh (Hrsg.), The Human Rights of Persons with Intellectual Disabilities, 2003,
S. 151/151 ff.
36 UN-Doc. A/RES/48/96.
22
„The term ‚disability‘ summarizes a great number of different functional limitations … People
may be ‚disabled‘ by physical, intellectual or sensory impairment, medical conditions or mental illness. Such impairments, conditions or illnesses may be permanent or transitory in nature.
The term ‚handicap‘ means the loss or limitation of opportunities to take part in life of the
community on an equal level with others. Is describes the encounter between the person with a
disability and the environment. The purpose of this term is to emphasize the focus in the shortcomings in the environment and in many organized activities in society, for example, information, communication, and education, which prevent persons with disabilities form participating
on equal terms.“
Aufgegriffen wurde diese Definition durch die – nicht verbindliche – „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2001 (Resolution WHA 54.21). Das Klassifikationssystem hat die davor genannten Standard Rules inkorporiert und dient der Überwachung ihrer Implementierung unter dem Aspekt Gesundheit/Behinderung.37
B. Inhalt der Verpflichtungen
1. Das Recht auf Bildung, Art. 24 Abs. 1 S. 1 BRK
Die Vertragsstaaten erkennen gemäß Art. 24 Abs. 1 S. 1 BRK das Recht auf Bildung
an. Dessen Zweck ist ausgerichtet auf die Entfaltung der Würde und die Stärkung
der Achtung vor den Menschenrechten, Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt (lit. a); die Entfaltung der Persönlichkeit (lit. b) sowie die wirksame Teilhabe an
der Gesellschaft (lit. c). Während diese mit dem Recht auf Bildung angestrebten Erziehungsziele ausdrücklich genannt werden, überlässt Art. 24 Abs. 1 BRK den Vertragsstaaten, auf welche Weise sie ein integriertes Bildungssystem sicherstellen. Besondere Verpflichtungen der Vertragsstaaten zur Erreichung eines integrierten Bildungssystems sieht Art. 24 Abs. 2 bis 5 BRK vor.
a. Allgemeine Verpflichtung zu einem inklusiven Bildungssystem
Die Vertragsstaaten gewährleisten als allgemeine Verpflichtung nach Art. 24 Abs. 1
S. 2 BRK „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“. Im Kontext der
Schulsysteme für Menschen mit Behinderungen werden nach allgemeinem Sprachgebrauch in einem integrativen Bildungssystem Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet.
Dass mit dem Abkommen ein in diesem Sinn integratives Schulsystem gefordert
wird, bestätigt neben dem Wortlaut auch der historische Kontext der Behinderten-
37 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMD, WHO Kooperationszentrum des Systems Internationaler Klassifikationen (Hrsg.), ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, 2005, S. 11.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Das Recht auf Bildung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Die vorliegende Abhandlung untersucht den Inhalt und die Reichweite des Rechts auf Bildung aus Art. 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und untersucht die Frage, ob und inwieweit die Schulsysteme der deutschen Länder den Vorgaben dieser Konvention genügen. Die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete Behindertenrechtskonvention beschränkt sich nicht darauf, allgemein die Menschenrechte zu bekräftigen, die auch in anderen Menschenrechtsabkommen gewährleistet sind. Vielmehr garantiert sie für Menschen mit Behinderungen auch ein Recht auf Inklusion in das öffentliche Leben im Allgemeinen wie in das Bildungssystem im Besonderen, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist.