Dass die Genetisierung der Medizin geradewegs zu einer von der Technik beherrschten, den Menschen aus dem Blick verlierenden Biomedizin führt, ist eine auch in den Sozialwissenschaften verbreitete Annahme. So werde der Patient zunehmend auf seine „Biomasse“ reduziert und die Rolle des Arztes nähere sich mehr und mehr der eines „Gesundheitsingenieurs“ oder „Biokraten“. Der Beitrag geht diesen Beobachtungen bzw. Befürchtungen nach und will vor dem Hintergrund einer umfangreichen empirisch-qualitativen Untersuchung der prädiktiven genetischen Diagnostik und Beratung zeigen, dass das angedeutete Bild einer technokratischen Biomedizin die Realität eher konterkariert und die Ärztinnen und Ärzte in der humangenetischen Praxis in Deutschland im Gegenteil besonders untechnokratisch handeln. Dabei wird eine professionssoziologische Perspektive eingenommen, in der technokratisches Handeln gerade in strukturlogischem Gegensatz zu ärztlich-professionellem Handeln steht. Allerdings macht die Analyse von aufgezeichneten Beratungsgesprächen und Interviews mit den Professionellen auch die durchaus vorhandenen Einstiegspunkte einer Technokratisierung sichtbar. Es wird deutlich, dass eine technokratische medizinische Praxis keine unmittelbare Folge humangenetischen Wissens oder biomedizinischer Technologien wäre, sondern Ausdruck eines potenziell immer möglichen technokratischen Umgangs der Ärzteschaft mit der neuen Technik. Ob die Genetisierung der Medizin also zu einer technokratischen Biomedizin oder eher umgekehrt zu einer Art professionalisierter Beratungsmedizin führt, ist keineswegs ausgemacht.
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